RENZ oder Die Reise nach Kukaburu

Tagebuch eines Aussteigers

von

PETER KASSER

 

 
© 1995, HEINRICH Verlag & Vertrieb
CH-4114 Hofstetten
ISBN: 3-9520796-0-X
 
 



 
 

VORWORT
 

Geplant war es sicher nicht, dieses Vorwort; aber dann: was ist in unserem Leben schon geplant?
Geplant war zum Beispiel, dass ich das vorliegende Werk (ein 'unschuldiges' Tagebuch, wenn ich so sagen darf) auf dem herkömmlichen Weg dem geneigten Publikum (und einer geeigneten Kritik) vorstellen würde; und der herkömmliche Weg sieht vor, dass man sich gefälligst - mit Manuskript und der Empfehlung eines literarischen Agenten (der das Werk auch entsprechend und gegen ein Entgelt überarbeitet) - an einen etablierten ehrwürdigen Verlag wendet mit der Bitte, dieser möge in einer freien Stunde - oder auch Viertelstunde - zumindest einen Blick werfen auf die eingesandten Manuskriptseiten, die der Verfasser (sprich ich der Autor) in mühsamen Wochen und Monaten zu Papier getragen hat. Resultat? Denkste!
Resultat gleich Null! Nach zwei Jahren der Suche und einer eher einseitig gelagerten Korrespondenzführung mit insgesamt weit über fünfzig altehrwürdigen wohletablierten (zum Teil aber durchaus auch jüngeren, modern sich gebenden) Verlagen steht fest: niemand will mein armes Tagebuch verlegen!
'Das ist zu anspruchsvoll', 'das ist zu hohe Literatur', 'das ist alles viel zu kompliziert' - 'und zudem passt es nicht in unser aktuelles Programm - ganz abgesehen davon, dass wir für die nächsten paar Jahre voll ausgebucht sind': meine Hosen wurden kurz und kürzer - bis ich nolens volens, ob ich wollte oder nicht, schliesslich mit völlig abgesägten Hosenbeinen (bis vor das Schambein gleichsam) vor der vollendeten Tatsache stand, dass mein Manuskript zwar, nach leidvollen Wehen, das Licht der Welt erblickt hatte - aber niemals das freundliche Auge (dein freundliches Auge, lieber Leser) eines geneigten Publikums erhaschen würde.
Liess ich mich entmutigen? Die Frage liegt nicht hier.
Sondern sie liegt vielmehr hier: gibt es bei uns, im sogenannt freien Westen, eine Art inoffizielle Zensur - und wie funktioniert sie? Wie lässt sie sich mit dem landläufig doch so hoch in Ehren gehaltenen Prinzip der freien Meinungsäusserung vereinbaren, wenn ein Schriftsteller durch einen Akt der Nicht-Veröffentlichung mundtot gemacht wird?
Natürlich sind es rein wirtschaftliche Überlegungen, die einen Verleger veranlassen, ein Werk zu veröffentlichen oder eben nicht. Und dieser Entscheid wird von der vorherrschenden Publikumsgunst diktiert, die sich in der Regel nur mit enormen Werbemitteln umpolen und erkaufen lässt. So verwundert es nicht, wenn der Verleger jedes Risiko scheut, Geld für die Publikation eines Werks zu verwenden, das vielleicht der subjektiv empfundenen "Erwartungshaltung" seiner Kundschaft nicht entspricht.
Und so murkst er eben all das ab, was in seinen Augen quer zur literarischen Landschaft liegt. Er betätigt sich als Zensor vor dem Publikum, dem er die Befähigung für ein selbständiges Urteil abspricht - wie wir das von jeder banalen Diktatur her kennen. Er bewahrt die etablierte Ordnung einer Marktwirtschaft, die keinen Platz hat für querdenkende oder querschreibende Aussteiger.
Dabei übersieht er, dass von der Natur her jeder Künstler ein Querdenker und Aussteiger ist, der sein Handwerk dafür verwendet, die Mängel der Gesellschaft und der Welt in der er lebt aufzudecken, auf seine Weise darzustellen und sie gleichzeitig in der Utopie seiner Kunstwelt zu überwinden. Wehe der Gesellschaft, die keine Künstler mehr braucht: sie hat sich ein Paradies erschaffen!
Da ich nun nicht der Meinung bin, dass sich die Menschheit ihr Paradies auf Erden bereits erschaffen hat - dass es mithin noch ein bescheidenes Plätzchen geben sollte für einen zuversichtlichen Künstler, der den Traum von einer besseren Welt weiterträumt - und da ich der zusätzlichen Meinung bin, dass noch viele Tausende von Menschen, die sich nicht Künstler nennen, nichtsdestoweniger den Glauben und einen festen Willen besitzen, dass die Menschheit "aussteige" und den Weg in eine glücklichere Zeit begehe -, liess ich mich von den zahlreichen Absagen nicht entmutigen und suchte nach Mitteln und alternativen Möglichkeiten, mein Werk dennoch zu veröffentlichen: die Zensur sollte nicht das letzte Wort behalten.
In der Folge habe ich nolens volens, gegen meinen Willen und mit dem Rücken zur Wand beschlossen, einen eigenen Verlag zu gründen, den ich HEINRICH nenne - in Erinnerung an jenen anderen Aussteiger, der sich auf den Weg machte nach fremden Gestaden, um daselbst die Fragen unserer Zeit und unseres Lebens zu erkunden. (Dass ich dabei den geschlossenen Widerstand und eine ebenso aufdringliche wie herablassende Belehrsamkeit der "Buchbranche" provozieren könnte, kam überraschend und war ungewollt; der Umstand sei hier nur im Sinne einer Anektote nebenbei bemerkt.)
Geplant war es nicht - aber jetzt hältst du die Frucht meines Unterfangens in Händen, lieber Leser, und dir - dir allein! - soll es zustehen, über Wert oder Unwert dieses Buches zu urteilen.
Damit wünsche ich dir viel Spass bei der Lektüre und lade dich ein, Renz auf seine Reise nach Kukaburu zu begleiten. Wenn du mir dabei über deine Eindrücke berichten willst, so sind deine Zeilen stets willkommen - es wird mir ein Vergnügen sein, dir in geeigneter Form zu antworten.
 
 
 

Peter Kasser
Januar 1995
 
 



 
 
 
 
 

1.

 

Ich schreibe,
Du schreibst,
Er schreibt.
Wir schrieben.
Ihr werdet schreiben.
Sie sollten geschrieben haben.

Lawrence Veumier.
Mein Name ist: Veumier, Lawrence.
Lorenz. Renz. Larry.
Mein Name ist: mein Name sei: - sei er.
 

Mein Name ist ein guter Name.
Er namt.
Ich name, du namst, er namt.
Ich namt' einen guten Namen, einen bess'ren findst du nicht.

Ich schreibe auf einer Schreibmaschine.
Hier:  H - i - e - r.
Das habe ich geschrieben.
Was soll ich schreiben?
Ich schaue, was sich hier so schreiben lässt.
Es ist eine gute Schreibmaschine, auf der ich schreibe.

Also:
Lawrence Veumier
Gartenstrasse 87
Zürich, Schweiz,
Europa, Erde, Sonnensystem, Milchstrasse, lokale Gruppe, Virgo-Haufen, Universum, All, Ausserall -
Aus.

Ausland.
Australien.
Australopithecus.

Es ist die Ansicht der Anthropologen, und der Ethnologen, und jene der übrigen Gelehrten, dass die australischen Eingeborenen, genannt Aborigines, Vertreter der ältesten überlebenden menschlichen Rasse sind. Sie stellen den Steinzeitalter-Typus dar und jagen mit dem Bumerang: Bum!

Australien.

Ich lebe in Australien, im Land der Bumerangs. In Westaustralien, genannt Wildblumen-Staat. In Perth, genannt Lichterstadt - auch genannt Stadt der schwarzen Schwäne und der weissen Meeresstrände. An der Springfieldstrasse-nicht-anders-genannt, im achtzehnten Haus, rechts, die steile Holztreppe hinauf, nochmals rechts, hier, bitte eintreten, willkommen, hier bin ich, ich bin da so am Schreiben...

Also, ich bin hier. Ich bin in meiner Wohnung.

Meine Wohnung ist eine lausige Wohnung. Ihre Lausigkeit verteilt sich auf zwei Teile: auf die eigentliche Wohnung - und auf das Zubehör. Das Zubehör befindet sich draussen auf der Diele und besteht aus einem kommunalen WC-Häuschen und einer kommunalen Dusche - hinten, an der Steiltreppe vorbei, mit Aussicht hinaus auf den kleinen verwilderten Garten im Hof. Die eigentliche Wohnung, die  ist hier, und sie besteht, gleich nach der Eingangstür, aus einem grossen Küchenzimmer und, nebenan, aus dem kombinierten Wohn-Schlafzimmer, wo ich jetzt schreibe, und wo ich wohne und schlafe und lebe und überhaupt generell bin.

Schlafen, Wohnen, Leben. Leben und Sterben. Der Tod. Der Schlaf.
Essen, Trinken, Rauchen, Spielen, Tanzen, Ficken, Furzen - Leben.

Schreiben.

Meine Schreibmaschine steht auf dem runden Sofa-Tischchen, wo es noch Platz
hat für meine Zigaretten und einen Aschenbecher sowie für ein Glas Portwein -
aber nicht für die Flasche, die dafür nebenan auf dem Boden steht. Hier ist die
 Wohnhälfte: mit dem Kleiderschrank und den Alkoholflaschen und der Musikanlage - und mit dem Bild an der Wand, welches das Panorama der Schweizer Alpen im Winter darstellt.

Links drüben ist die Schlafhälfte: mit einem Bett - sogar einem Doppelbett - und einer Kommode mit Kippspiegel - und mit einem roten Pin-up an der Wand, das ins Bett hinuntergrinst und ein Playgirl mit einer Goldfisch-Bowl vor ihren breiten, nackten Lenden zeigt.

Ganz hinten, quer hinter dem Bett, schliesst ein Fenster gegen die Strasse und den kalten, australischen Winter hinaus ab. Still ist's draussen. Bald ist Mitternacht.

Hier drin ist es auch still. Ab und zu tippt's holprig und verstohlen auf der Schreibmaschine vor mir: tip, tip, tipi-tipi-tip! - und dann ist's wieder ruhig. Und kalt. Gegen die Kälte habe ich den Heizkörper eingesteckt, dessen Drähte mir nun entgegenglühen. Dazu rauche ich französischen Tabak, höre Musik, trinke australischen Wein -

Sonst jedenfalls bin ich allein, allein in meiner lausigen Wohnung. Irgendwann kommt noch Martin, mein chinesischer Schmarotzer, der abends in einer Kneipe bedient. Dann nimmt er die hintere Matratze vom Bett und wirft sie vor dem Sofa-Tischchen auf den Boden und legt sich drauf, um den Rest der Nacht durchzupennen - und dann ist wieder ein Tag vergangen.

Was soll ich tun?

Heute ist Sonntag. Ein guter Tag. Ein lausiger Tag.
Ein Tag aller Tage - Tag ein, Tag aus.
Ich tue, tu tust, er tut.
Tut-tut.

Ist da jemand vorgefahren? Hat da jemand gehalten?
Ich schau mal nach.
Nein. Niemand. Nur vorbeigefahren.
 
 
 
 
 
 

2.

 

Was tun, fragt sich: was ist zu tun in einer solchen Lage. An wen soll man sich wenden?
Soll man wohin gehen. Womit soll man anfangen. Hat das Ganze einen Sinn?
Lohnt sich auch nur zu fragen.
Was tun?
Ich fragte Martin; der wollte sich vollsaufen. Ins Kino wollte er nicht gehen. Er hätte sich den Kittel angezogen, um sich vollzusaufen - nicht, um ins Kino zu gehen. Ob ich mitkomme?
Ich ging zu Anita, doch sie war nicht zu Hause. Chapong, der wollte studieren. Dann ging ich zu Ismael - und der, hiess es, sei mit Trixy ausgegangen. Nwafo hinwieder war im Begriff, sich in die Uni-Bibliothek zu begeben.
Jetzt bin ich wieder hier.
Und frage mich: wohin soll ich gehen. Was soll ich tun?
 

Auf dem Reisebüro gab man mir Broschüren.
Ich muss weg. Weg von hier, weg von der Uni, weg von Perth. Irgendwohin. Zurück in die Schweiz.
Und was soll ich dort tun? Was soll ich dort tun, was ich hier nicht tue?
Das daure manchmal Wochen, meinte sie im Reisebüro, bis so ein Visum eintrifft. Da lohne es sich schon, den Zeitpunkt und die Route genau vorzuplanen.
So gesehen, hätte ich mit meinem Austritt aus der Uni ruhig zuwarten können.
Soll ich weiterstudieren?
Ich könnte Mrs Goodwyn fragen, die weiss doch sonst alles.
"Lawrrrence," sagt sie zu mir und rollt das "R" länger, damit es fremdländisch klingt: wenn das Problem ein finanzielles sei, dann möchte ich das mit ihr doch diskutieren.
Das hat sie mir geschrieben.
Das Problem jedoch ist eher: soll ich schreiben; und das möchte ich nicht mit Mrs Goodwyn diskutieren.
Wenn schon, dann mit Walter. In meinem letzten Brief habe ich ihn gebeten, er möchte mir doch eine Stelle finden - in Zürich oder irgendwo - als Englischlehrer etwa, oder so -
Das würde das Problem der finanziellen Seite lösen. Er müsste mir das Reisegeld vorstrecken - aber das liesse sich dann wieder abzahlen, das wäre kein Problem.
Oder ich könnte auch hierbleiben und hier einen Job suchen. Als Deutschlehrer etwa.
Die Finanzen sind nicht das Problem.
Fragt sich nur, ob es richtig ist, alles so überstürzt abzubrechen? Wäre ja zumindest besser, einen Abschluss vorzuweisen.
Und wenn schon zurück: warum nicht ein paar kurze Stops einbauen, statt auf direktem Weg zurück?
Ich könnte hier arbeiten - so wär ich unabhängig?
Letzte Woche bat ich Ismael um Rat. Er verweigerte ihn mir, mein Busenfreund. "Du befolgst ihn ja doch nicht," meinte er. "Ich hatte dir geraten, weiterzustudieren - und du bist ausgetreten."
Dafür lud er mich zum Essen ein.
In der Folge habe ich nun einen Termin, indem ich beim College-Essen auf Ranthir stiess - und Ranthir versprach, er komme bei mir vegetarisch Curry kochen. Das war damals noch Hassans Idee gewesen - "ein Mann der grossen Worte, nicht
der Tat!" wie Ranthir trefflich (wenngleich etwas hitzig) bemerkte.
 

Und bis dann? Was tun bis dann!
Ich muss dieses Buch schreiben.
Wo. Wann. Wie.
Ich muss da Klarheit schaffen. Sicher ist: ich muss hier weg, fort, an die Wärme. Hier ist es mir zu kalt - und in der Schweiz ist es noch kälter.
Ich muss mir die nächsten Schritte überlegen. Ich muss wissen, wie es weitergehen soll.
 

Seltsam, wirklich seltsam, wie es einem im Leben so ergeht. Da lebt man drauflos, alles erscheint logisch, zwingend, unausweichlich - und eines Tages steht man da und merkt, dass man gestrandet ist, dass man sich irgendwo geirrt hat. Und schon geht es nicht mehr weiter.
Und plötzlich ist man allein. Und man weiss nicht, was tun.
Es gibt nichts mehr zu tun.  Ich warte, warte, warte - worauf?  ich weiss es nicht.
Und noch immer tut sich nichts.
Nun habe ich die Hoffnung aufgegeben, dass sich je noch etwas tut. Das Mass der Wahrscheinlichkeiten ist erschöpft.
 
 
 
 
 
 

3.

 
 

Dienstag, 1. September
 

Martin war stockbesoffen, als er gestern um zwei heimkam. Ich hatte noch längere Zeit an der Schreibmaschine gesessen und mich später aufs Bett gelegt, um Reisebroschüren zu studieren, als ich hörte, wie draussen das Taxi vorfuhr. Martin stieg aus und bedankte sich umständlich beim Chauffeur; dann schlug er die Autotür zu und arbeitete sich die Holztreppe hoch, während ich seine Matratze vom Bett zerrte und sie auf den Boden legte, zwischen Bett und Sofa-Tischchen, dort, wo er jede Nacht pennt.
Martin trat ein und schlug die Küchentür zu. Dann angelte er sich den Türrahmen entlang ins Wohnzimmer und sah sich aus kleinen, chinesischen Äuglein im Zimmer um, so als suchte er irgendeine Veränderung darin. Dazu liess er wie zum Zeichen tiefster Trauer seine Backen herunterhängen. Mit seinem prall gefüllten Ranzen sah er wie ein beduseltes Elefantenbaby aus.
"Weisst du was?" fragte er schliesslich in dramatischem Ton.
"Nein," sagte ich, und ich meinte es ehrlich.
"Sie haben uns aus dem 'Trendy' geworfen!"
"Nein!"
"Doch!"
"Das ist schlimm!"
"Ha! zu sechst waren sie!" rief er entrüstet. Er schob sich vom Türrahmen weg und hob mit beiden Händen insgesamt sechs Finger in die Höhe. "Sechs Rausschmeisser standen um unseren Tisch herum und wollten uns rausschmeissen!" Mit unsicherem Schritt trat er ins Wohnzimmer.
"Und? Haben sie euch rausgeworfen?"
"Ja, aber wir gingen nicht sofort; erst mal tranken wir unser Bier aus." Er liess sich auf die Matratze fallen, die ich ihm auf dem Boden zurechtgelegt hatte.
"Mit wem warst du denn überhaupt?"
"Mit Stephen und Miung."
"Und weshalb wollten sie euch rauswerfen?"
"Weil wir nicht zwölf Dollar für den Eintritt bezahlen wollten. Glauben die eigentlich, wir sind belämmert? Zwölf Dollar, nur um reinzukommen?"
"Wie seid ihr denn trotzdem reingekommen?"
"Von hinten, durch den Service-Eingang. Stephen kennt ihn noch von früher."
Er begann sich auszuziehen, und ich räumte die Reisebroschüren zusammen.
Ich hatte unrecht gestern, als ich ihm wegen seiner Sauftour Vorwürfe machte. Zumindest geht er regelmässig einer Beschäftigung nach, während ich meine Tage mit Nichtstun verbringe. Und wenn er hinter der Bar serviert, lernt er jede Menge Leute kennen, über die er mir jeweils nach Feierabend erzählt - wie sollte ich ihm da eine kleine Abwechslung verwehren?
"Sag mal, willst du Selbstmord begehen?"
"Nein, danke. Wie kommst du darauf?"
"Wegen deinem Messer dort."
Martin grinste und zeigte auf das Küchenmesser. Es lag neben der Schreibmaschine auf dem Sofa-Tischchen.
"Ich habe mir eben eine Orange geschält, okay? Und du, trägst du etwa suizidale Absichten unter deinem Busen? Dann muss ich dich bitten, es draussen zu tun. Ich will hier keine Schweinereien im Haus."
"Ja, stell dir vor, einmal habe ich es tatsächlich versucht."
"Wirklich?"
"Da, schau!" Er streckte mir seinen linken Arm entgegen. Ich sah nichts.
"Ich wüsste nicht einmal, wo ich schneiden müsste."
"Komm her, ich zeig's dir!" Er wies auf die Innenseite seines Handgelenks.
 "Siehst du diese Narbe da? Wenn du hier durchschneidest, triffst du die Schlagader. Wenn du nebenan schneidest, blutest du nur ein paar Stunden."
"Das muss aber schmerzhaft sein, was?"
Er zuckte die Schultern. "Es geht."
Ich setzte mich auf den Polstersessel neben dem Sofa. Seine Selbstmord-Story schien vielversprechender als die Rausschmeisser-Story.
"Wie lange ist das her?"
"Oh das, das ist schon lange her."
"Da warst du in einer echt miesen Stimmung, nicht?"
"Ja, so ungefähr."
"Das kann ich mir vorstellen!"
"Ich war sogar bei einem Psychiater."
"Was wollte denn der?"
"Nichts. Er gab mir ein paar Tests und sagte, ich solle in einer Woche wiederkommen. Aber ich hatte genug. Fünfzig Dollar wollte der Typ für eine einzige Unterredung - dabei konnte ich noch nicht mal liegen! Hier!" er tippte sich auf die Stirn, "ich bin doch nicht bescheuert!"
"Ja, aber was wollte er denn überhaupt?"
"Oh, er stellte verdammt viele Fragen - aber sonst sagte er nichts."
"Und was sagtest du selbst?"
"Oh, nicht viel. Ich hatte finanzielle Probleme - deshalb ging ich auch nicht mehr zurück."
"Und weshalb gingst du das erstemal?"
"Mein Arzt hat ihn mir empfohlen."
Es war nicht leicht, ihm die Würmer aus der Nase zu ziehen. Aber schliesslich erfuhr ich soviel, dass er zu Beginn des Jahres aus der Uni ausgeschlossen worden war, da er weder die Jahresprüfung noch die Nach-Prüfung bestand. Seine Eltern hatten ihn daraufhin aufgefordert, unverzüglich nach Malaysia zurückzukehren, doch er wollte unbedingt in Australien bleiben, um Geld zu verdienen. Aber anstatt viel Geld zu verdienen verlor er bei den Pferderennen fast zweitausend Dollar.
"Und da fiel dir nichts Besseres ein, als zum Psychiater zu rennen?"
"Ich sagte dir ja: mein Arzt hat ihn mir empfohlen."
"Du littst an - lass mal sehen - an einem Minderwertigkeitskomplex! Ach Martin, das ist zu komisch! Und jetzt hast du wohl wieder einen Komplex, weil du definitiv heimkehren musst?"
"Blödsinn!"
"Aber damals?"
"Blödsinn!"
"Und dann zu verzweifeln und zu einem Psychiater zu rennen! Wärst du zu mir gekommen - ich bin ein besserer Psychiater als jener Fünfzig-Dollar-Typ. Bei mir brauchst du nichts zu bezahlen und liegst ausserdem noch bequem auf einer Matratze."
"Für dich ist es auch leicht. Du kennst mich seit langem."
  "Trotzdem bin ich besser." Ich musste auf die Toilette.
"Bluffer!"
"Von wegen Bluffer! Darf ich dem Patienten denn eine Tasse Kaffee offerieren?"
"Ja, gern."
Ich ging in die Küche und schloss den elektrischen Sieder an. Als ich von der Toilette zurückkam, war Martin eingeschlafen. Er schlief immer sehr rasch ein -
und dann weckte ihn nichts wieder auf bis spät in den folgenden Morgen.
Er lag auf der Seite, noch halb in den Kleidern, mit dem Kopf weit nach hinten gestreckt. Aus dem halboffenen Mund schauten zwei breite, rattenähnliche Schaufelzähne heraus; sie sahen  niedlich aus. Fett und plump lag er da - bald würde er zu schnarchen beginnen.
Ich beneidete ihn. Aber ich hatte versäumt, ihn über die Details seines Selbstmords zu befragen.
 

*
 

Ach ja, Martin: Martin will ein Buch schreiben. Das hat er mir erst kürzlich anvertraut. Wie wir draufgekommen sind, weiss ich nicht mehr.
Martin und ein Buch schreiben! Das ist wie ein Elefant und auf dem Seil tanzen!
Aber recht hat er. Es ist immer gut sich vorzunehmen, ein Buch zu schreiben; auch wenn mich dies von Seiten Martin ein wenig überrascht.
Natürlich fragte ich ihn, worüber er denn zu schreiben gedenke; und er meinte, über die Leute, die er in Australien so kennengelernt hätte, da seien etliche Originale darunter - und schliesslich habe er ja auch allerhand erlebt.
Nun glaube ich, dass er über seine Krise von damals und über seinen Selbstmordversuch schreiben will.
Eines könnte ich ihm jetzt schon sagen: aus diesem Buch wird nichts. Mit einem Buch rechnet man nicht mit der Vergangenheit ab. Allenfalls mit der Gegenwart, ja, aber nicht mit der Vergangenheit.
Aber was kümmert's mich. Und so unrecht hat er ja nicht. Ist es doch besser, in der Hoffnung zu leben als in den dunklen Flecken der Erinnerung.
 

*
 

Wenn Anita heute Abend wieder nicht kommt, werde ich sie nicht mehr besuchen. Soll sie doch zu mir kommen, wenn ihr etwas an mir liegt!
Hoffentlich kommt sie. Ich gehe nicht gern allein aus.
 
 
 
 
 
 

4.
 
 

Mittwoch, 2. September

Da sitze ich nun also wieder, ich armer Tor, und habe, wie zuvor, eine Schreibmaschine vor mir stehen, auf der ich nichts Kluges zu schreiben weiss.
Was habe ich mir da bloss eingebrockt?
"Um etwas zu tun, schreibe ich. Ich schreibe auf einer Schreibmaschine. Die Schreibmaschine steht auf einem kleinen runden Sofa-Tischchen. Ich sitze auf einem Sofa vor dem kleinen runden Sofa-Tischchen, und um etwas zu tun, schreibe ich..."
...WAS?
Ich weiss es nicht. Aber zumindest habe ich etwas zu tun.
Wenn ich nichts tue, gehe ich dort hinüber zum Bett und lege mich hin und starre hinauf zum nackten Pin-up-Girl an der Wand - und dann?
Wenn ich hingegen schreibe, sitze ich hier auf dem Sofa vor dem kleinen runden Sofa-Tischchen - und von hier aus kann ich mir die ernsten Schweizer Alpen anschauen, oder ich kann mir ein Glas Portwein einschenken, oder mir eine französische Zigarette anzünden, oder eine Schallplatte auflegen, auf dass die Musik das Klappern der Schreibmaschine übertöne -
Wenn ich schreibe, tut sich wenigstens etwas.
Nur: wenn man nichts zu schreiben weiss - so wie jetzt zum Beispiel...
DONNERWETTER!
Wie weit darf man wohl gehen im Verwünschen seiner Schreibmaschine? Ist es denn ihr Fehler, dass sie so laut klimpert - und dass sie die halbe Zeit überhaupt nicht klimpert?
Aber auf irgendwen, irgendwas muss sich die Langeweile doch entladen!
Donnerwetter! war nicht stark genug vorhin. Es tönt zu mager. Verdammte Scheisse! tönt besser - aber es liest sich schlecht. Ich muss auf meinen Stil achten.
Seltsam: da habe ich vor ein paar Tagen begonnen, einfach so vor mich hin zu schreiben, wildes Zeug, frisch von der Leber - wie jetzt - (dabei hatte ich durchaus einen Grund: ich wollte das Schreibmaschinenschreiben lernen - oder genauer: statt ewig auf zwei Fingern zu schreiben nahm ich mir vor, das Zehnfingersystem zu erlernen: damit sich das Schreiben wirtschaftlicher auf die Finger verteilt) -, und jetzt sitze ich also schon ein paar Tage hier, zwar im Vorsatz übenderweise, dennoch und offensichtlich schon von einem gewissen Ehrgeiz getrieben, mehr und anders zu schreiben als das, was sich eher willkürlich als vages Gedankengut so präsentiert - und da merke ich: diese Übung nimmt nicht den geplanten Lauf.
Das liegt wohl einerseits daran, dass ich das ursprüngliche Vorgehen der spontanen Niederschrift schon überschritten habe; zum anderen musste ich allerdings schmerzvoll erfahren, wie schwierig es ist, flüchtiges "Gedankengut" in Schrift und logischen Sentenzen zu verfestigen: entweder verselbständigen sich die Gedanken zu unhaltbaren, verwässerten Traumbildern - oder sie versiegen schlechtwegs; beides ist jedenfalls einer planvollen Absicht äusserst abträglich.
Und nun also schickte ich mich eben an zu fragen, inwieweit ich selber Einfluss auf den Gang meiner Gedanken, auf die Richtung ihrer Entwicklung nehmen wollte - da beschloss ich, mir die Sache in ihrer ganzen Komplexität später nochmals intensiv zu überlegen, mich aber einstweilen ins Weinhaus nebenan zu begeben, um daselbst ein Gläschen Portwein mir zu quicker Gaumenfreude zu genehmigen.

Es liegt nicht weit von hier, und es ist recht gemütlich, wenn man in einer Gruppe kommt. Nur war ich heute eben allein, und ich fühlte mich elend mit meinem heiseren Hals, der mich schon seit ein paar Tagen quält.
Rose, die Barmaid, staunte nicht schlecht, als sie mich sah, wie ich da mitten am Nachmittag und erst noch alleine daherkam. Und dann konnte sie meine Bestellung kaum verstehen, so furchtbar hatte meine Erkältung inzwischen meine Stimmbänder angegriffen. Schliesslich schenkte sie mir ein Glas Weisswein ein. Dann besann sie sich aber, entfernte den Weisswein wieder und stellte stattdessen ein Glas Marsala vor mich auf die Theke.
Zuerst wollte ich nichts sagen. Aber dann, um trotzdem und überhaupt etwas zu sagen, fragte ich, was sie mir denn da aufgetischt hätte?
Sie schaute auf das Etikett, errötete und sagte: "Entschuldige, ich habe mich in der Flasche geirrt!" Und nachdem sie mir endlich meinen bestellten Portwein serviert hatte, wandte sie sich den anderen Gästen zu.
Und dann hing ich völlig idiotisch allein an der Bar rum, trank Portwein und dachte an meine Wohnung und ans Schreiben, sah den anderen Gästen zu, wie sie im Raum herumstanden und aus ihren Gläsern tranken und sich nicht komisch dabei vorkamen - schliesslich schlich ich mich hinaus wie ein Schuldiger - dabei war ich einmal der erste Stammgast hier!
 

Wie dem auch sei: jetzt sitze ich wieder hier. Ich kann ebensogut hier Portwein trinken und hier Musik hören, und rauchen kann ich auch - Heiserkeit hin oder her - also, was soll's?
Oh Gott! Zuletzt beginne ich noch mich einsam zu fühlen! Es ist nicht gut, allein zu sein!
Insofern leistet mir meine Schreibmaschine willkommene Gesellschaft. Ich kann auf ihr herumtippen, wenn ich will - und wenn ich nichts mehr zu schreiben weiss, sitze ich trotzdem da, direkt vor ihr, und nehme einen Schluck Portwein oder zünde mir eine Zigarette an - und dann tippe ich vielleicht wieder ein paar Zeichen mit dem Zeigefinger (mit dem rechten: er ist stärker als der linke), während ich das Glas Portwein und die Zigarette in der Linken halte - dabei schaue ich hoch und erblicke die Alpen - und dann brauche ich einen grösseren Schluck Portwein - und plötzlich fluten die Schreibideen nur so herein, und ich stelle das Weinglas ab und schiebe die Zigarette in den linken Mundwinkel und schreibe mit zehn Fingern, um der Ideenflut Herr zu werden - : so fülle ich die Blätter und wärme die Finger und vertreibe mir die Zeit mit einer glaubhaften Beschäftigung, die vielleicht sogar für einen Aussenstehenden einen möglichen Sinn ergibt.
Jetzt aber fühlen sich die Finger steif an, und das Schreiben schleppt sich mühsam dahin. Es ist zu kalt in meiner Wohnung. Zudem bin ich es nicht gewohnt, mit zehn Fingern gleichzeitig zu schreiben: es ist verwirrend und lenkt ab.
 

Bald haben wir Frühling. Im Frühling werde ich mehr Gelegenheit haben, mit zehn Fingern zu schreiben. Und im Frühling wird es wärmer sein.
Doch wie verbringe ich die Zeit bis zum Frühling? Soll ich zurück ins Weinhaus?
Nicht einmal Edwin der Manager hatte Zeit für einen kurzen Schwatz gefunden. Augenzwinkernd lief er mit seinem schiefen Grinsen und der sorgfältig gezogenen Scheitel von Tisch zu Tisch und erkundigte sich nach jedermanns bestem Befinden: ein schlauer und gerissener Typ, dieser Edwin, und sehr beflissen, wenn es ums Geschäftliche geht. Heute war ich ihm fast dankbar, dass er mich nicht anquatschte und in Ruhe liess.
Ich rauche zuviel. Dieser Tabak, der mir zu stark ist, der aber aus Europa kommt und hier kaum bekannt ist und dazu fürchterlich stinkt, er schlägt mir auf den Hals.
Vielleicht liegt es auch nur am Wetter. Es ist zu kalt in diesem Land.
Möglicherweise habe ich mir eine Erkältung zugezogen? Verwundern würde es mich nicht. Ich sollte mir wärmere Kleider kaufen: wollene Hemden, vielleicht eine Jacke, ein paar sportliche Hosen.
Im Fall einer Erkältung: sollte ich da nicht eher Rum trinken? Rum wärmt eher als Portwein. Zudem wirkt er desinfizierend, wenn der Hals entzündet ist.
Das liesse sich in einem Spiegel feststellen.
Oder sollte ich besser Halstabletten lutschen?
Zum Teufel mit dem Hals!
Jedenfalls gehe ich nicht wieder ins Weinhaus. Allein ohnehin nicht. Eher bleibe ich hier vor meinen leeren Blättern sitzen. Die vollzukriegen ist mein eigentliches Problem.
Die ganze Schreiberei kennt nämlich ihre Tücken. Da muss man erst einen brauchbaren Gedanken haben, bevor man etwas niederschreiben kann - und wenn es einmal soweit ist - ja, dann ist auch das eher gesagt als getan: eher gedacht als geschrieben.
Man kann nämlich auch zuviel denken. Und wenn es dann ans Niederschreiben geht, hat man leicht den Faden verloren und muss wieder zurückdenken, um all das Gedachte neu von Anfang an zu rekonstruieren und den Gedanken neu aufzurollen...
Andererseits: wenn man alles fortlaufend drauflos, gleichsam gedankenlos, einfach so niederschreibt, dann fehlt die Entwicklung, der Plan, die schwungvolle Form des Gedachten.
Der eigentliche Inhalt meiner Übung besteht somit darin, gleichsam die ideale Verbindung von Denkzeit und Niederschrift zu finden. Und damit hapert es vorläufig gewaltig. Vom Schreiben mit widerspenstigen, ungelenken zehn Fingern ganz zu schweigen.
Aber warum muss ich ausgerechnet jetzt, wo ich entschlossen bin, Perth zu verlassen, mit einer solchen "Übung" beginnen? Als suchte ich darin nach einer neuen Bindung, die mich bleiben lässt!
 

Ich brauche eine Brücke zum Frühling. Bis zum Frühling tut sich nichts. Ich werde üben und schreiben, bis der Frühling kommt. Ich werde abwarten und sehen, was mir der Frühling bringt.
Und während ich abwarte, werde ich schreiben und das Geschwätz meines Lebens mit dem Tippen meiner Schreibmaschine übertönen.
Vielleicht finde ich an der Langeweile Spass?
 

Es geht darum, in dieser Schrift und Welt zu überleben.
 
 
 
 

5.
 

Donnerstag, 3. September.
 

Ich sitze mit Chapong im 'Coral'. Chapong hat das letzte Schachturnier gewonnen, und so schulde ich ihm jetzt ein Nachtessen. Wir kommen meistens hierher. Es ist das am nächsten gelegene chinesische Restaurant. Das Essen ist gut und reichlich, und der Preis korrekt.
"Chapong, hast du je daran gedacht, ein Buch zu schreiben?"
Chapong, mit dem zerzausten Kopf tief über den Teller gebeugt, die letzten Überbleibsel darin aufkratzend.
"Bitte?" Seine bläulich verwaschenen Augen sehen mich verwirrt an.
Chapong in seinem immerselben zerknitterten Hemd und der immerselben verwaschenen Wolljacke, die ihm lose von den Schultern hängt. Chapong in seiner ganzen Liederlichkeit.
"Chapong, wo haben sich deine Gedanken denn wieder verirrt?"
Ständig abwesend, unentwegt deprimiert und skeptisch - und doch so leichtgläubig, dass er einem jeden Blödsinn glaubt.
"Oh, Entschuldigung!" Höflich ist er, der Chapong.
Aber nie beginnt er ein Gespräch, und immer dauert es eine ganze Weile, bis er von einem Notiz nimmt. Er kommt zu mir, wenn er sich in seinem College-Zimmer langweilt. Dann spielen wir Schach und trinken Kaffee - und kommen wir doch einmal ins Gespräch, findet es bald keine Fortsetzung.
Den einzigen Spass mit ihm hat man, wenn man ihn provoziert: mit einer faulen Bemerkung etwa, die ins Weiche trifft. Dann reagiert er heftig und verteidigt sich eine Zeitlang.
"Woran dachtest du eben, Chapong?"
"Ich dachte, wie schön es wäre, in der Lotterie zu gewinnen. Eine Million, oder so. Wäre gut, nicht?"
"Bestimmt!"
Das war sie also, seine private Welt.
Er schmunzelt kurz, wie verlegen - und schon will er sich wieder in seine Welt des Still-vor-sich-hin-Brütens zurückziehen.
"Ich fragte dich," insistiere ich, "ob du je daran gedacht hast, ein Buch zu schreiben."
"Nein!"
Kurz, unmissverständlich: Nein! Eine mathematische Antwort. Chapong liebt mathematische Antworten. Deshalb gewann er das letzte Turnier.
Ein junges chinesisches Paar tritt ein und schaut sich im Restaurant um. Alle Tische sind besetzt. Wie die junge Dame dort an der Tür steht und suchend ihrem Gatten über die Schulter guckt, sieht sie recht attraktiv aus. Das Pärchen beginnt zwischen den Tischen herumzuwandern.
Weshalb 'Nein'? Ich wüsste bessere Antworten. Er schien nicht einmal überrascht zu sein? Hat er sich die Frage etwa selber schon gestellt? Oder findet er den Gedanken schlechterdings absurd?
"Warum eigentlich nicht, Chapong? Wäre doch eine ganz gute Idee, dein Wissen in einem Buch zusammenzufassen - damit andere davon profitieren können. Findest du nicht?"
"Nein."
"Warum willst du deinen Mitmenschen nicht helfen?"
"Wie meinst du das?"
"Ich meine: du hast gewisse Schwierigkeiten, dich im Leben zurechtzufinden. Sicher hast du dir viele Gedanken gemacht - über dich, das Leben, ganz allgemein - und bist zu bestimmten Schlussfolgerungen gekommen. Wie wär's, wenn du all dieses Wissen in einem Buch zusammenfasstest, damit auch andere Menschen davon profitieren?"
"Vielleicht."
"Du hältst nicht viel davon?"
"Nein."
Das chinesische Paar sucht noch immer nach einem Tisch. Jetzt stehen sie direkt hinter mir. Es ist erst kurz nach sieben - zu früh, um ins Kino zu gehen.
Ich drehe mich um und bitte die jungen Leute, an unserem Tisch Platz zu nehmen: wir würden ohnehin bald aufbrechen.
Chapong rutscht nervös auf seinem Stuhl herum. Er liebt fremde Gesellschaft nicht. Auch unsere jungen Gäste halten nicht viel von Geselligkeit: sie setzen sich neben uns an den Tisch und drehen ihre Stühle leicht ab, und nun sitzen sie sich schräg und schweigend gegenüber und warten auf die Bedienung. Es bleibt uns immer noch ein halber Krug heissen Chinesentees zum Trinken.
"Du willst also dieses Buch nicht schreiben?" beginne ich erneut, nur um etwas zu sagen.
"Nein. Ich kann ohnehin nicht schreiben."
"Meinst du denn nicht, dass sich die Menschen gegenseitig helfen sollten?"
 Chapong schmunzelt. "Siehst du," meint er mit wichtiger Miene und lehnt sich vor, "ich mag vielleicht manchmal wie ein Sozi sprechen - aber in Wirklichkeit bin ich ein altmodischer Kapitalist!"
Die junge Chinesin wirft ihm einen flüchtigen Blick zu. Chapong lehnt sich wieder zurück und schaut mich auf seine schüchterne Art herausfordernd an. Offensichtlich erinnert er sich nicht, dass er mir diese Selbstdefinition bereits vor ein paar Wochen aufgetischt hat.
An einem anderen Tisch erkenne ich Sarah. Ich fühle mich immer beschämt, wenn ich sie sehe.
Chapong schenkt sich eine Tasse Tee ein.
"Okay," sage ich, "das mag ja stimmen.  Aber auch als Kapitalist bist du von anderen Menschen abhängig. So ist es bekanntlich von Vorteil, wenn man einem Kapitalisten entgegenkommt - denn handkehrum kann auch er dir wieder behilflich sein."
"Das ist alles vorgeplant. Wenn ich mein Studium abgeschlossen habe und in Bangkok unterrichte, stehe ich voll und ganz meinen Studenten zur Verfügung. Dann können sie mit all ihren Problemen zu mir kommen, und ich werde ihnen helfen, wo immer ich kann."
"Na schön! Nur könntest du dich bereits jetzt nützlich erweisen. So hättest du zum Beispiel statt nur dir Tee einzuschenken auch gleich meine Tasse auffüllen können." Ich greife nach dem Teekrug. "Siehst du?"
Chapong grinst. Er ist ein störrischer Schüler.
Im Lokal wird es heiss. Der schwere Geruch nach stark gewürztem Essen wirkt einschläfernd, und ich begehre nach frischer Luft.
Wir trinken den Tee aus. Ich zahle. Beim Hinausgehen wechsle ich ein paar belanglose Worte mit Sarah. Sie ist in Begleitung einer asiatischen Freundin.
Draussen weht ein kalter Wind. Wir sind eine gute halbe Stunde zu früh für das Kino.
"Wenn du das Buch nicht schreibst - darf ich es dann für dich schreiben?"
Chapong scheint den Wind nicht zu spüren. Schlottrig stapft er neben mir einher, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen. Seine verwaschene Wolljacke flattert formlos hinter ihm her, so als könnte sie sich jeden Moment in nichts auflösen und mit dem Wind davonfliegen.
"Wenn du meinst."
Er hatte speziell für mich sein eigenes Programm umgestellt, um mit mir ins Kino zu gehen, denn ursprünglich wollte er mit seinem siamesischen Freund in die Uni-Bibliothek. Das war ja ganz nett, fand ich, nur könnte er allmählich auch etwas zur Unterhaltung beitragen.
"Ich benötige lediglich etwas Hintergrundmaterial, damit ich dir besser gerecht werde. Den Rest kannst du ruhig mir überlassen. Einverstanden?"
"Gib mir ein paar Tage Bedenkzeit."
"Sicher. Lass dir ruhig Zeit. Ich werde dich in ein paar Tagen wieder fragen, einverstanden?"
"Weshalb willst du denn überhaupt ein Buch über mich schreiben?"
"Oh, ich finde, du bist ein interessanter Typ. Du hast einen speziellen Charakter - und dann kenne ich dich ja schon lange..."
Chapong sieht amüsiert hoch. "Du glaubst, mich zu kennen?"
"Ja, doch. Ziemlich."
"Was weisst du denn über mich?" Jetzt gibt er sich überlegen. Aber in seine Überlegenheit mischt sich, ich merke es, ein Hauch Misstrauen.
"Nun, ich weiss zum Beispiel, dass du ein Träumer bist, und dass du dich oft niedergeschlagen fühlst und dich keinen Deut darum kümmerst, was um dich herum geschieht - dass du ständig über dich selbst grübelst und äusserst misstrauisch bist - und so weiter. Trifft das alles nicht zu?"
"Vielleicht." Er studiert wieder seine Fussspitzen, während wir weitergehen.
"Und dann weiss ich noch etwas: dass du in allem furchtbar vage bist. Immer 'vielleicht', 'kann sein', 'möglicherweise'! Versuch doch mal etwas bestimmter zu sein! Sag doch mal 'Ja!' oder 'Nein!' (Da tat ich ihm Unrecht vorhin, als ich mich noch über sein 'Nein!' ärgerte.) Dann weiss man zumindest, woran man ist. - Siehst du, Chappy, das ist der Unterschied zwischen dir und mir. Du bist unklar und vage, und ich bin bestimmt und - zack-zack! verstehst du? Sogar wenn ich meiner nicht sicher bin, oder wenn ich Sorgen habe - wichtig ist, dass man nach aussen hin zuversichtlich und fröhlich erscheint."
"Für dich ist es leicht, das zu sagen."
"Wieso?"
"Du hast keine Sorgen."
"Woher willst du das wissen? Natürlich habe ich Sorgen. Zum Beispiel bin ich knapp bei Kasse, nachdem ich..."
"Aber du weisst wenigstens, dass du bald wieder zu Geld kommst. Du brauchst bloss nach Hause zu schreiben."
"Zugegeben."
"Siehst du, deine Sorgen sind nur temporärer Natur." Chapong triumphiert. Ich kann stolz auf mich sein.
"Ich glaube, jetzt hast du mich erwischt."
"Siehst du, ich hatte recht!"
"Vielleicht, ja. Andererseits..."
"Wer sagt denn jetzt 'Vielleicht'? Ich finde, du bist ziemlich inkonsequent in deinen Argumenten!"
Ich hasse Mathematiker. Sie verstehen nichts von Logik.
"Okay, Chappy, du hast recht: meine Sorgen mögen wohl temporärer Natur sein -
aber deine sind es nicht minder. Worauf es ankommt, ist das Ausmass an Bedeutung, die man ihnen zumisst. Ich verleugne zum Beispiel schlechtweg, irgendwelche Sorgen zu haben. Ich habe soeben gut gegessen, spaziere nun gemütlich durch die abendlichen Strassen von Perth, freue mich auf den Film, den wir uns gleich ansehen werden, geniesse den kühlen Wind, der uns um die Ohren weht - und natürlich deine Gesellschaft - : ich verstehe wirklich nicht, weshalb du das nicht auch kannst. Freust du dich denn nicht, mit mir ins Kino zu gehen?"
"Ich weiss nicht."
"Was heisst da 'Ich weiss nicht'? Dann sind wir aber quitt, Freundchen, hein?! Freust du dich oder freust du dich nicht?"
"Okay."
"Okay was? Ja oder nein?"
"Okay, ja!"
Das kostete ihn eine schiere Anstrengung. Er sackt förmlich in sich zusammen und verlangsamt seinen Schritt.
"Du bist schrecklich, Chapong! Na komm schon, wir haben noch einen weiten Weg. Ich werde über dich schreiben. So, wie wir uns jetzt miteinander unterhalten. So, wie du mit mir ins Kino kommst. Wie du lebst und wie ich dich kenne, mit all deinen Grübeleien und Brütereien. Du wirst dich aus einer ganz neuen Perspektive sehen. Du wirst dich so sehen, wie ich dich sehe, als fremde Person, die selbständig auf jeder Buchseite lebt und sich mit jeder Handlung, mit jedem Wort neu vorstellt. Würde dich das reizen?"
Chapong reagiert nicht. Und ich gebe ihm auch keine Gelegenheit dazu.
"Siehst du, Chapong, das ist genau der Unterschied, von dem ich vorhin sprach: ich bin aktiv, und du bist passiv. Du liegst auf dem Bett herum und brütest, und ich gehe ins Weinhaus und schwatze mit der Barmaid. Du lässt dich von den anderen herumschubsen und einschüchtern, und ich trete ihnen in den Arsch."
"Das ist aber etwas grob, nicht?" Es bleibt unklar, ob er sich lustig machen will oder nicht.
"Schon recht, Chapong, nimm mich nicht allzu wörtlich. Aber siehst du, darum geht es doch letztendlich: aktiv zu sein, Präsenz zu markieren. Du aber bist dermassen mit dir selbst beschäftigt, dass du jeglichen Kontakt zur Aussenwelt verlierst. Du brütest und meditierst und erfindest immer neue Sorgenquellen - dadurch erreichst du nichts. Denken ist Passivität. Das Leben aber verlangt nach Aktivität: sei aktiv, Chapong!"
"So wie du?" Wieder ist nicht ersichtlich, ob er mir eins auswischen will - oder ob er tatsächlich auf meine Blödeleien eingeht.
"Jawohl, so wie ich. Nimm dir ein Beispiel an mir - dann darfst du nämlich das nächste Mal mich zum Nachtessen einladen. Weisst du, es ist nett, Gastgeber zu sein: das richtet einen enorm auf. Nur im Kino, da musst du selber zahlen, da machen wir halbe-halbe. - Sag mal, was trägst du da eigentlich mit dir rum? Sind das noch immer deine Vorlesungsnotizen?"
Chapong trägt tatsächlich seine Schreibmappe unter dem Arm - ich bemerke es erst jetzt.
"Die hättest du ruhig in meinem Zimmer lassen können. Was ist es denn?"
"Statistik."
"Hältst du Schritt?"
"Nicht ganz. Ich bin leicht im Rückstand. Aber das hole ich problemlos auf."
"Mach dir nichts draus. Morgen ist auch ein Tag. Geniesse den Abend. Eine
Verschnaufpause tut immer gut."
Mich fröstelt. Die Strassen sind zu dunkel hier unter dem schwarzen, verhangenen Nachthimmel. Oder das Kino ist zu weit weg.
Jedenfalls ist es zu kalt.
 
 
 
 

6.
 

Freitag, 4. September  23h30
 

Ist dies also mein Schicksal? Du meine Güte, womit nur habe ich so was verdient?
Jetzt, da alles fast geregelt war, da ich meinen Abschied vorbereiten, mich auf meine Heimreise, die Reise durch Südostasien hätte freuen können, genau jetzt muss ich damit beginnen!?
Kann ich denn das? Was braucht es überhaupt?
Eine Schreibmaschine natürlich, und viel Port. Geduld und Musse - Zeit, jede Menge.
Mit diesen Mitteln soll ich in den Kampf? In den miesen Kampf ums Leben und ums Sterben?
Welch betrübliche, kümmerliche Aussicht!
Ich bin verwirrt. Da warte ich, warte ich - und jetzt das!
Wenn man so lange wartet und es geschieht nichts, fühlt man sich leicht hintergangen. In diesem Sinn fühle ich mich hintergangen: betrogen und enttäuscht.
Und dann ist es richtig, wenn man eine Reise plant: einen Plan, zu verreisen. Ich habe Freunde, die mir dabei helfen. Wie Ismael, der heute Nachmittag vorbeikam. Er erzählte mir von Indonesien und von Java, von Vulkanen, Tempeln und Batik, von Bali, seinen Göttern, von wundersamen Pilzen. Er selbst kommt aus Medan; er zeigte es mir auf meiner Asienkarte. Der Landweg vom Süden sei sehr beschwerlich, meinte er, deshalb sei die Flug- oder Schiffsreise aus dem Norden vorzuziehen. Allein des zauberhaften Tobasees wegen lohne sich jedenfalls der Besuch.
Ich gab zu, dass mich dieser Ausflug sehr verlockte, gab aber zu bedenken, dass mein Reiseplan noch nicht sehr konkret, eher generell sei. Vielleicht, sagte ich, reise ich nämlich direkt heim.
Oder bleibe überhaupt hier.
Denn ausgerechnet jetzt, zu einem so ungünstigen Zeitpunkt befallen mich Zweifel - suche  ich Ausflüchte, um mich einer
 'Schreibübung' zuzuwenden, von deren Nützlichkeit ich erst selbst noch überzeugt werden muss.
Wo führt das alles hin?
Offenbar nicht in den Dschungel Sumatras. Sondern eher in den Dschungel absonderlicher Gedankengänge, abstruser Gehirnfluktuationen, die sich ihre Tastenkombination auf meiner Schreibmaschine erst noch suchen müssen.
Ist das der Weg? Bin ich dazu geboren? Welchem Stern habe ich das zu verdanken?
Das liege an der Veranlagung, meinte Martin damals, am künstlerischen Naturell. Davon verspüre er selbst zwar wenig, obschon seine Sternstunde im Wassermann liegt - allerdings knapp an der Grenze zum Fisch - und sowieso glaube er nicht an die Sterne - : jedenfalls hoffe er zuversichtlich, dieses Buch gelegentlich zu schreiben.
Was gibt es da für mich zu hoffen? Gibt es den Fisch? Gibt es das Wasser? Oder nur das Theater?
Bin ich glücklich?
Ich werd verrückt!
Was bleibt, ist die Nacht. Und die Mahre. Wer Nachtmahre hat, schreibt von selbst. Das Klappern der Schreibmaschine hält die Gespenster fern. Zumindest die Nacht lasse ich mir nicht stehlen.
Ich liebe die Nacht. Je trostloser die Nacht, desto mehr liebe ich sie. Ich liebe diese vagen, vernebelten, vieldeutigen Nächte, wo nichts zu unterscheiden ist: dort spielt das gerissenste Leben.
Hier spielen Komödianten, hier spiele ich meine lustigen Spiele, die niemand durchschaut - weder ich noch meine engsten Bekannten.
Und genau hier beginnt das Problem: Was wird hier eigentlich gespielt?
Die Frage liesse sich auf eine Formel reduzieren. Oder man könnte eine Münze werfen - es sei denn, man ist pleite.
Nur: die Antwort auf die Frage ist unabhängig von der Lösung des Problems. Mathematik ist so, das hat Chapong bewiesen. In der Mathematik gibt es dieses berühmte Häkchen, an dem die ausgeklügeltste Berechnung hängenbleibt.
Wie hier zum Beispiel: hier liegt das Häkchen im Moment der Tragik, indem sich das banalste Lustspiel vor dem sorglosen Publikum zur Farce, zur Tragödie wandelt, welche nichts mehr gemein hat mit dem ursprünglichen Problem.
Und dann spiele ich, spielst du, spielt er das falscheste Theater seit Sophokles. Ein richtiges Lügentheater. Die blosse Existenz beruht auf Lug und Betrug - und die Rollen wechseln beständig.
Und immer enger zieht sich das Netz zusammen, bis niemand mehr weiss, wer er ist und was er tut - und erst ganz zuletzt bemerkt man den Trug - oder merkt überhaupt nichts, ist einfach gefangen im Netz.
Und dann?
Dann beginnt die Spinne dich zu saugen.
Welche Spinne?
Ich weiss es nicht.
Mein Leben ist eine Lüge. Niemand weiss, was ist Spass, was Ernst.
Was ist Wahrheit?
Wahrheit ist das Krümmen des Häkchens. Und mit dem Krümmen des Häkchens beginnt das Problem.
Das hat schon mancher Fisch gespürt.
Und so geht es dann weiter!
Krümmen wir los, hacken wir weiter auf der Tastatur!
Gute Nacht, ihr Geister!
Ich muss hinweg!
Weg, weg, weg!
Ich muss dieses Buch schreiben!
 
 
 
 

7.
 

Samstag, 5. September
 

Gerettet, Nwafo kommt!
Nwafo ist ein netter Bursche. Er kommt aus Nigeria und will dort einmal an der Universität unterrichten, sobald er sein Studium hier abgeschlossen hat.
Gut. Wir gehen auf eine kleine Spritztour. Lausiges Auto - aber es fährt, meistens. Den Trick mit dem Autofahren hat Nwafo in Australien gelernt.
Ich schlage vor, Fanny und Ahmed zu besuchen.
Fanny war in meiner Klasse, als ich noch studierte. Sie besuchte mich oft in meiner Wohnung, obschon sie um Sarah wusste. Dann lernte sie Ahmed kennen und zog mit ihm in eine eigene Wohnung, und mir war es recht, auf diese Weise etwas Distanz zu gewinnen.
Beide sind sie eifrig am Studieren; aber wir sind trotzdem willkommen. Fanny offeriert Kaffee. Ich folge ihr in die Küche, während Nwafo sich mit Ahmed über Politik unterhält.
Sie habe viel zu tun, meint sie, mit Essays, Lesen, Schriften. Momentan arbeite sie an einer Studie über Dickens - den wortreichen Hintergassen-Romantiker.
Sie reiht Kaffeekrüge nebeneinander und löffelt Kaffeepulver hinein, während wir auf das Wasser warten.
"Wieviel Zucker nimmst du?"
"Zwei."
"Milch?"
"Ja. Dasselbe für Nwafo, glaube ich."
Ich schaue ihr zu und frage mich, was sie so attraktiv macht? Ihr Mund ist es nicht: er ist zu gross (sie schwatzt aber auch unaufhörlich; nicht dass sie klatscht, aber immerhin sind es doch unglaubliche Banalitäten, die mich jedesmal total aus der Fassung bringen). Ihr Busen ist es auch nicht: übergrosses Gerät. Nicht einmal eine gute Liebhaberin ist sie gewesen.
Sie besitzt eine fleckenlose weisse, sanfte Haut und schwarze, glänzende Augen, die unter ihren breit geschwungenen Brauen wie samtene Funken glühen. Ihr langes schwarzes Haar fliesst ihr in feinen Strähnen auf die Schultern. Jetzt, da sie leicht nach vorn geneigt das Wasser in die Krüge schenkt, sieht sie in der Tat wie eine jungfräuliche, unantastbare Heilige aus.
Sie schaut unvermittelt auf, blickt mir direkt in die Augen. "Und du," fragt sie, "was machst du jetzt die ganze Zeit?"
"Ich? Oh, nichts Besonderes. Ich gehe oft ins Weinhaus, empfange Freunde, oder gehe auf Besuch, oder ins Kino - oder gehe sonst aus..."
Sie braucht mich nicht mehr. Ich bin überflüssig hier. Die Einsicht schmerzt.
Vom Küchenfenster aus überblickt man die roten Ziegeldächer der Universitätsgebäude. Es ist ein guter Campus. Wie in einer Welt für sich ordnen sich die Fakultäten gefällig in eine Gesamtanlage ein, verbunden durch weite Parks und Sportfelder: das Verwaltungsgebäude, die Winthrop Hall mit dem Konzertsaal, die Studentengilde mit ihren Klubzimmern, das Refektorium, die Cafés, die grosse Bibliothek  mit ihren Lesehallen, ihren Studiertischchen, ihrer grossen offenen Terrasse - ein guter Campus. Ein gemütlicher Campus. Ein ruhiger, geordneter, sinnreicher Campus.
Verdammt sei der Campus!
"Wann verlässt du Australien?"
Sie sollte nicht fragen. Ich will nicht fort. Es gefällt mir in Perth, hier, unter meinen Freunden. Hier finde ich Ruhe und Vergessenheit. Hier habe ich mich versöhnt.
 

Ich schlage vor, für ein Bier in die Pub am See hinunterzugehen.
Ahmed und Fanny lehnen ab. Sie hätten keine Zeit, sie müssten noch studieren. Ahmed witzelt, wir sollen in der Pub ein Glas für ihn mit trinken, und Fanny schlägt dasselbe für sich vor. Ich witzle zurück: okay, dann gebt uns das Geld für eure Getränke.
Schliesslich brechen Nwafo und ich allein auf.
"Sag mal, bist du eigentlich verliebt in Fanny?"  fragt Nwafo, während wir zum See hinunterfahren.
"Eigentlich nicht, weshalb? Weil ich sie so oft besuche?"
"Ja; jedesmal, wenn wir rausfahren, willst du sie besuchen."
"Ich mag sie, das ist alles. Es ist auch nicht so, dass ich Ahmed beneide. Ich möchte nicht mit ihr zusammenleben."
"Was das betrifft, möchte ich überhaupt mit keiner Frau zusammenleben," meint Nwafo hochmütig.
"Oh, es gibt schon welche," entgegne ich, ohne an eine bestimmte zu denken.
Ich liebe es, mit Nwafo auszufahren. Ich liebe seine frische, ehrliche, kraushaarige Natürlichkeit.
Liebe ich Fanny? Ich weiss es nicht. Ich liebe sie, wenn sie nicht schwatzt. Ich liebe sie, wenn sie mit mir auf dem Bett liegt, wenn sich ihr warmer Körper an mich schmiegt. Ich liebe sie, wenn ich mit der Hand über ihre feine, sanfte, weisse Haut fahre, wenn ich ihre dunklen, samtenen Augen küsse, ihr duftendes Haar rieche. Aber dann beginnt sie zu schwatzen, und ich liebe sie nicht mehr, und wenn sie geht, fühle ich mich leer und betrogen.
Wir haben die Pub erreicht. Wir sind die einzigen Gäste.
Ich bestelle zwei grosse Helle. Das Bier ist eiskalt. In Australien trinkt man es so: eiskalt und bis an den Rand gefüllt - ohne Schaum.
"Wie geht's an der Uni?"
"Im Moment ist es ziemlich herbe. Schlage mich so durch. Aber bis zu den Prüfungen dauert's ja noch!" Wie um die Sache nochmals genau zu durchdenken, legt Nwafo seine hohe, pechschwarze Stirn in ein ganzes Netz von winzigen Runzeln, die nun irgendwie saukomisch mit seinem Kraushaar kontrastieren.
Sein Kraushaar hat mir seit jeher imponiert. Welche Gedanken sich hier verfangen mögen?! Ob sich hier wohl auch sein Bier verfängt, wenn er zuviel trinkt? Dann wird der Bursche eh ungemütlich!
Mit dem Rücken an die Theke gelehnt, schauen wir hinaus auf die Gartenterrasse. Im Sommer ist es angenehm nach den Vorlesungen mit ein paar Kollegen hierherzukommen und draussen auf der Terrasse unter einem Sonnenschirm eiskaltes Bier zu trinken. Auf dem See treiben dann die Segelboote geruhsam und ziellos im lauen Wind umher, und unten am Ufer spielen Schulkinder Fussball - und abends, wenn sich der Wind gelegt hat, sitzt man noch immer draussen auf der Terrasse unter den bunten Glühbirnen und schaut zum See hinaus und hinüber zu den Lichtern der Stadt auf dem gegenüberliegenden Seeufer und lauscht dazu auf die Musik drinnen in der Pub -
Ich werde nicht hier sein im Sommer. Und jetzt ist es zu kühl, um draussen zu sitzen. Die blechernen Stühle und Tische stehen verwahrlost auf der Terrasse herum. Der See ist eine öde, graue Fläche. Kein einziges Boot zeigt sich. Auf dem Spielfeld nebenan jagen sich zwei Hunde. Ein Mann schlendert quer über das Feld. Die Szene erinnert an einen morbiden Film.
"Was behandelt ihr gerade in Englisch?"
"Robert Browning."
"Gut?"
Nwafo liebt Browning. Browning sei der beste englische Dichter, findet er.
Der Krauskopf hat keine Ahnung. Dichtung ist Ausdruck von Empfindung, Sinnlichkeit, Innerlichkeit. Was sich hingegen der alte Verseschmied da so zusammenreimte, ist nichts als pseudo-intellektuelle Spitzfindigkeit, Äusserlichkeit, Schaustellerei. Ich hasse diesen gerissenen Effekthascher! Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich - ach! was zum Teufel geht mich dieser Browning an! Ein paar seiner Sprüche sind ja ganz amüsant.
Aber über irgend etwas muss man sich ja schliesslich unterhalten.
Wir setzen uns an einen Tisch und unterhalten uns über Browning. Ein gutes Thema.
Ich bringe Hemingway ins Gespräch. Nwafo mag Hemingway nicht. Gut so, ich auch nicht. Ich verteidige ihn nur aus Solidaritätsgründen: seiner traurigen Innerlichkeit, seiner alten, verhassten, schmuddligen Innerlichkeit wegen.
Hemingway hätte Gedichte schreiben sollen.
Ich bestelle weiteres Bier. Nwafo wird mich nach Hause fahren.
 
 
 
 
 

8.
 

Sonntag, 6. September

Dieser Hurensohn verdirbt mir noch den ganzen Sonntag! Was erlaubt er sich eigentlich? Sein Fell werde ich ihm vom Leib reissen, ihm die Faust in den verlogenen Rachen stossen, dem Hund, dem elenden!
'Was hat der mir schon zu bieten?!' - ha!
Und was hat er zu bieten? Was hat er schon zu bieten ausser seinem schimmligen Pferdegebiss, das ich ihm in tausend Stücke zerschmettern werde?
Und dazu betrunken! Wie kann er sich betrinken, wenn er doch kein Geld hat? Und hat er Geld: warum zahlt er dann seine Schulden nicht ab? Wehe, wenn ich ihn erwische!
Als mir Ismael gestern Abend die Story erzählte, fühlte ich, wie mir das Blut glutheiss in den Kopf stieg. Es ist aber auch eine Unverfrorenheit ohnegleichen, sich erst bei mir einzunisten, ständig Geld zu pumpen und anschliessend abzuhauen und zu erklären, ich hätte ihm sowieso nichts zu bieten!
Lump, verruchter!
So wütend war ich, dass ich mich kaum aufs Schachspiel konzentrieren konnte. Natürlich verlor ich problemlos.
Ich werde ihn mir vorknöpfen! Verprügeln werde ich ihn wie einen tollwütigen Strassenköter! Ich will ihn winseln hören und um Gnade flehen, bevor ich ihm das Maul endgültig stopfe!
Dieser Sonntag jedenfalls ist im Eimer. Australische Sonntage sind immer irgendwie im Eimer. Sogar die Pubs sind zu.
Dieser verlauste Haschbruder! Dieser Hochstapler!
Was hat er selbst zu bieten ausser seinen geklauten Heustengeln, die ich ihm in den Hintern stecken werde?! Ein Schwindler ist er, ein hundsgemeiner Schwindler der übelsten Art!
Mit seinem frechen Grinsen stiehlt er dem Herrgott den lieben Tag ab und mogelt sich als Geck durchs Leben, dabei schert er sich einen Dreck um die Leute ringsum, sondern leckt ihnen noch das Salz von den Füssen, wenn es ihm dient. Bei mir hat er ganze Salzberge geleckt und liess sich dafür noch bezahlen, bis ich ihn schliesslich aus der Wohnung warf.
Und Ismael verteidigte ihn noch, logisch: weil er betrunken war! Und Trixy erachtete es für nützlich, mich zum Abschied noch zu hänseln und "Aber wir mögen dich immer noch!" hinterherzuquaken. "Und vielen Dank noch für den Kaffee, und die Orangen, und die Musik, und die Lektüre - und auf Wiedersehen!"
Okay, verstanden, man beliebt mich zu verhöhnen, Grund genug gibt's offenbar!
Ich habe verspielt. Hassan hat recht: ich habe echt nichts zu bieten. Deshalb bin ich so wütend auf ihn.
Ich hasse den Kerl! Überall jagt er dem Vergnügen nach und findet es allenthalben. Und was mich am meisten nervt: das ist seine unersättliche Gier! Da rast er dahin und reisst einen mit und findet nie Zeit stillzustehen - ich hielt mit diesem mörderischen Tempo einfach nicht mit!
Ich habe verloren, ich weiss. Zuletzt schaffte ich es noch nicht mal, Lust auf das Vergnügen selbst zu haben.
Was ich an Hassan beneide, ist, dass er nie genug kriegt!
Mögen ihn die Ratten fressen!
Das hat man also davon. Da zieht man die Natter auf, macht sie mit Dirnen und Haschkrämern und anderem Gesindel bekannt und zahlt erst noch für den Unterhalt - und zum Dank wird man beleidigt und verhöhnt!
Lasse ich mir sowas gefallen? Bin ich denn ein Feigling? Das wäre ja noch schöner!
Ich lasse mich von dieser schwarzen Schlange doch nicht herumschieben!
Magst du dich ins Zentrum winden, verdrängen lasse ich mich nicht von dir, Hassan, und wenn du des Teufels wärst!
Ich brauche nur irgendeinen Vorwand. Ich brauche immer einen handfesten Grund, etwas zu tun.
 

Ich meine: bin ich denn brutal? Bin ich von Natur aus destruktiv?
Oder anerkenne ich Werte, für die sich ein Opfer lohnt?
Oder bin ich tatsächlich ein Feigling, einer, der sich vor seiner Verantwortung drückt?
Werte sind da für Schwächlinge! Anstand und Liebe, Kunst, Religion - weg mit ihnen! Das ist was für Leute ohne Mut, etwas für farblose Mitläufer!
Hassan ist keiner von ihnen. Der biegt sich seine Werte so lange zurecht, bis sie ihm am besten dienen.
Oh, der Fuchs! Dieser schlaue, gerissene Fuchs!
Oh, Sonntag, lieber Sonntag! Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren! Zu essen gibt es auch nichts, bis Martin kommt! Zum Glück führe ich etwas zum Trinken. Mit zwei Dry Martinis habe ich mich schon bedient.
Oh, welche Lust ich doch verspüre, sein grosses Lästermaul zu stopfen! Ihm ein Knie in den Bauch zu rammen, einen rechten Haken aufs Kinn, dann eine volle Linke auf die Nase - sein Rückgrat möchte ich zerbrechen! Zuletzt drehe ich ihm noch den Hals um, bis er sich von hinten sieht und die Welt aus einer ganz neuen Sicht erkennt!

Natürlich trifft es zu: das Alte langweilt mich, und so strebe ich unentwegt nach Neuem - und das ist auch bald bekannt. Von daher trifft es zu, dass ich nichts bieten kann.
Drehen wir den Spiess doch einmal um. Was hat die Welt mir zu bieten? Sie, mit ihrem stellaren Gefunkel und ihren planetarischen Bahnen - was liegt da für mich drin? Da kommt man sich doch nur komisch vor, als Statist, als eine Marionette - und insgesamt doch eher fehl am Platz!?
Es ist zum Verrücktwerden!
Der ganze Zauber dreht sich doch nur im Kreis, und zuletzt findet man sich am Anfang wieder - ohne einen Schritt vorwärtsgekommen zu sein. Da kann man doch gleich zuhause bleiben und Türen und Fenster verriegeln und die Glotzkiste einschalten, sofern man eine hat, und auf der Flimmerscheibe verfolgen, was sich draussen tut.
Ich passe da einfach nicht rein, ich passe nicht in dieses System, in diesen geordneten Lauf. Es muss etwas geben, das mich trennt, das mich an den Rand drängt.
Aber ich zahle für meine Position! Bis jetzt habe ich bezahlt - und ich bestehe auf Rückzahlung, wenn ich abtreten soll!

Einstweilen muss ich kurz austreten. Wie viele Martinis waren das? Drei oder vier?
Ich liebe Dry Martinis. Davon kann man beliebig viele trinken und wird doch nicht richtig voll davon - nur leicht beschwipst. Und im Laufe der Zeit überfällt einen eine angenehme Müdigkeit, eine bequeme Gleichgültigkeit - und dann ist die Welt wieder in Ordnung.

Gott hatte da Heimvorteil: der bog sich seine Werte zurecht und wusste, wo die Häkchen lagen. Am Ende stand seine Welt, und das Programm lief ab - und dies, wie es schien, zu seinem masslosen Vergnügen.
Ich muss mir auch ein Programm erstellen. Ich muss mir auch eine Welt kreieren - mit Bergen und Seen, mit Häkchen und durstigen Kehlen - mit Schmarotzern, lumpigen Dieben - halt mit allem, was so dazugehört.

Oh, rauscht, ihr Wässerchen, rauscht! Mein Lebenssaft entrinnt - in die Kloake - hinweg!
Oh, tut das gut! Es gibt nichts Besseres, als sich den Ärger durchs System zu spülen. Zuletzt bleibt die Erleichterung - und ein Zucken in den Schultern: was soll's?
Tropf aus, erbärmlich Wässerlein, tropf aus!
Oh, welche Wohltat!
Es hat was Gutes, sich den Ärger von der Seele zu schreiben. Zum einen hat man den Beleg, zum anderen fragt man sich: hab ich was vergessen - oder war's das schon?
Und zuletzt: allein die leere Hülle bleibt!
 
 

Mein schmarotzender Barmann hat sich zurückgemeldet. Jetzt ist meine ganze Kreativität gefordert!
"Hallo dort, du mein schlitzäugiger Bruder, willkommen!" begrüsse ich ihn. "Wie viele Boxkämpfe hast du denn heute geschlichtet?"
"Keine. Die Bar vorn war sowieso geschlossen - und im Restaurant passiert sowas kaum."
"Keine Boxkämpfe? Keine Gewalttätigkeiten? Nicht ein Zipfelchen Brutalität?"
"Gütiger Himmel, was ist denn heute wieder los mit dir?"
"Nichts ist los, du fettwanstiges Wohlstandsprodukt orientalischer Prägung! In einem leeren Magen ist nie was los!"
"Hast du den Curry aufgegessen?"
"Curry, oh Meister der Kochlöffelführung? Welchen Curry geruhen Ihro Dienstwürden zu erwähnen?"
"Den Curry natürlich, den ich gestern kochte. Wir haben noch nicht mal die Hälfte davon gegessen - und Reis hatte es auch noch eine halbe Pfanne voll."
"Aber worauf wartest du dann noch, mein lieber Martin? Auf, los, in die Küche: ich sterbe vor Hunger!"
"Ich glaube, du wärst sogar fähig, in einer Speisekammer zu verhungern!"
"Sehr wohl bemerkt. Aber siehst du: des Weisen Brot ist - seine Weisheit!"
"Verschone mich mit deinen Weisheiten!"
"Richtig: erlaben wir uns an Irdischem."
"Ich hab Prawns mitgebracht - ich dachte, du hättest den Curry schon aufgegessen."
"Das macht nichts, wozu haben wir schliesslich einen Kühlschrank? Gib her! Kommt, oh ihr hartschaligen Heerscharen der Meere, ich werde euch euren Warteplatz zur Erlösung zuweisen. Ihr habt sogar die Wahl, denn der Kategorien sind zweierlei: sucht ihr, bei aller Bescheidenheit, den harten Urgrund eisiger Heiligkeit - oder zieht ihr den wohligen Komfort in schlummernder Kühle vor? Doch seid gewarnt: wie auch immer ihr euch entscheidet, keine Macht der Welt wird euer Schicksal ändern!"
"Sag mal, spinnst du eigentlich?"
"In einem gewissen Sinne ja, denn nur ein Spinner meisselt Runzeln ins Gesicht der Welt."
"Was haben meine Prawns mit deinen Runzeln zu tun?"
"Deine Prawns überlegen sich eben, ob sie lieber gekühlt oder tiefgekühlt werden möchten."
"Lege sie ins Kühlfach, sonst muss ich sie morgen nur wieder auftauen."
"Hört ihr, meine kleinen Meerfreunde? Der Koch hat für euch entschieden! Und nun mögt ihr euch hier kühlen bis zur Stunde des Gerichts, und wisset: wenn ihr erneut das Licht der Welt erblickt, wird sühnende Vergeltung eurer harren! Im Fegefeuer werdet ihr landen, dem niemand entgeht! Denn Sünder seid ihr alle. Amen!"
 
 
 
 
 

9.
 

Montag, 7. September

Zehn Uhr morgens: so früh bin ich noch nie aufgestanden!
Morgenstund hat Gold im Mund - zeigt her eure Füsse, zeigt her eure Schuh - heute wird geputzt!
Und dann gehe ich auf den Campus.
 

*
 

Zwölf Uhr. Wusch meine Wäsche in der Laundro-Bar; welche Plackerei! Dabei herrscht richtiges Ferienwetter. Sogar die Sonne scheint; kühl, aber immerhin: sonnig.
Schamponierte mein Haar unter der Dusche, bürstete meine Zähne, machte das Bett - ich war richtig aktiv heute Morgen! Alles glänzt und glitzert, und besässe ich einen Staubsauger würde ich eventuell sogar noch Staub saugen.
Item: jetzt bin ich hungrig. Ich werde im Uni-Ref essen gehen.
Ein letzter Blick in den Spiegel, noch ein resoluter Strich durch die lockige Mähne, den Pullover um den Hals - voilà, smart boy!
Und nun lasst die Welt uns sehen!
 

*
 

Siebzehn Uhr: zurück von meinem Ausflug auf den Campus. Fühlte mich ein wenig wie ein Tourist beim Besuch eines Pflichtstücks.
Der Frass im Ref: lausig wie üblich, dafür billig. Lästig allein die jungen Studenten ringsum mit ihrer zielbewussten Nervosität. Sie schlangen das Essen hinein, als fänden die Prüfungen bereits morgen statt.
Item: sah meine indische Squaw. Sie sah hinreissend aus wie immer - aber diesmal gaben meine Knie nicht mehr nach. Ich darf ihr einfach nicht zu nahe treten: mein Götterbild soll nicht zu Bruch gehen. Irgendwie erinnert sie mich an Anita - den der Teufel holen mag!
Item: die grosse Enttäuschung war Mrs. Goodwyn. Zuerst liess sie mich geschlagene fünf Minuten warten, während sie in ihr Telefon hineinflötete - und dann überhäufte sie mich mit einer ganzen Maskerade von zähnefletschendem Bedauern, schiefwimprigem Verständnis, getünchtem Erstaunen und lackbenagelter Beflissenheit, so, als müsste sie für einen Farbenkleckser modellplappern - möge auch sie der Teufel holen! Möge sie in der Hölle dampfbaden und dort ihre gottserbärmlichen Grimassen schneiden!
Trotzdem erstaunlich, wie fremd man sich plötzlich fühlt, wenn man der Uni einmal entsagt hat. Fühlte mich wie ein Eindringling auf verbotenem Boden. Nur das Reisebürofräulein, das mich schon letzte Woche bediente, war wirklich nett und zuvorkommend. Mit einem entzückenden Lächeln händigte sie mir weiteres Prospektmaterial aus für meine erwogene Reise durch Südostasien.
 
 

*
 

Habe einen Kostenvoranschlag gemacht für meine Reise: sie kostet zuviel.
Allein der Transport verschlingt ein Vermögen - und für Unterkunft und Verpflegung sowie weitere Spesen lege ich nochmals zuviel drauf. Hm!
Zuerst mit dem Bus von Perth nach Darwin, hatte ich mir vorgestellt; dann per Schiff ein Inselhüpfen durch Indonesien bis nach Singapur, dann mit dem Zug weiter nach Bangkok, und von dort mit dem Flieger nach Zürich, falls es das gibt, und weiter per Tram in die Gartenstrasse, falls es die auch noch gibt: eine Reise von rund hundert Tagen.
Warum nicht? Man plant schliesslich nicht alle Tage eine Reise. Zudem: wenn ich bis zum Sommer warte, kehren viele meiner asiatischen Freunde ferienhalber nach Hause zurück und können mir so aus erster Hand die lokalen Sehenswürdigkeiten zeigen - so wie Ismael in Medan - falls er überhaupt heimfährt -
Für Singapur müsste ich mein Haar schneiden lassen. Verdammte Restriktionen! Ob sich das lohnt?
Ich könnte Singapur auch einfach überspringen. Oder direkt von hier heimfliegen; das käme erst noch billiger. Oder ich bleibe in Perth; das kostet am wenigsten.
Ich muss dieses Buch schreiben, koste es, was es wolle! Bevor ich dieses Buch nicht geschrieben habe, tut sich gar nichts - das weiss ich, so wahr ich jetzt nichts tue!
Ich tue, du tust - gütiger Himmel, zumindest heute habe ich etwas getan! Und heute jedenfalls gehe ich nicht ins Weinhaus! Heute bleibe ich zuhause!
 
 
 
 

10.
 
 

Dienstag, 8. September

Gehe Ismael im College besuchen. Unterwegs läuft mir Chapong über den Weg. Er habe gestern die ganze Nacht hindurch studiert, erzählt er, bis sechs Uhr früh. Der Kerl spinnt.
Wir treffen Ismael auf seinem Zimmer. Er kocht uns Tee und erzählt uns seine neuesten Witze. Zum Beispiel: Wer abends mit einem Sexproblem ins Bett geht, wacht am Morgen mit der Lösung in der Hand auf.
Chapong ist begeistert und wird von einem Lachkrampf erfasst, er wirft sich nach hinten, dann schmeisst es ihn wieder nach vorn, dabei krümmt er sich zusammen, sein Lachen wird heiser - nach einer Weile wird es peinlich.
"Kanntest du den?" frage ich ihn.
Chapong schüttelt ein "Nein!" aus dem glucksenden Bauch.
"Aber ich glaube, ich kenne ihn!" bedeute ich ihm vielsagend.
Chapong erholt sich plötzlich. "Du meinst mich?" fragt er verdattert. "Nein; aber ich kenne einen anderen!" Er unterdrückt einen erneuten Kicheranfall.
"Erzähl!"
"Ich will keine Namen nennen - es genüge zu sagen, dass er in einem anderen College wohnt," beginnt er umständlich. "Seine Putzfrau entdeckte jeden Morgen Spritzer in seinem Zimmer und wusste zuerst gar nicht, woher sie kamen -
hihihihi! -, sogar an den Wänden. Er benutzte keine Papiertaschentücher oder so
was, versteht ihr? Schliesslich ging sie zum Vorsteher und erzählte ihm, wie dieser Student sein ganzes Zimmer besudle. Der rief ihn zu sich,  und anschliessend schickte er ihn zu einem Psychiater." Chapong bricht unvermittelt ab und scheint verlegen. Offenbar ist seine Geschichte zu Ende.
"Und jetzt: fühlst du dich besser?"
"Nicht ich, Dummkopf!"
"Ja, natürlich. - Was erzählte dir denn dieser Psychiater?"
"Ich sage dir doch, das war nicht ich!"
"Das war jener Thai-Freund von dir, nicht?"
"Nein, jemand anderes."
"Und jetzt, spritzt er unter der Dusche weiter?"
"Wahrscheinlich; ich weiss es nicht."
Ismael grinst. "Als Morgengymnastik kann ich mir blödere Übungen vorstellen!"
"Siehst du, Chapong, das sagte ich dir früher schon immer: sei aktiv!"
Albert, der Hippie, kommt ("Was gibt es hier?"), wirft sich auf Ismaels Bett ("Haste mal 'ne Zigarette?") und wartet auf Unterhaltung. Seine schmutzigen Füsse vergraben sich in die Bettdecke. Zwischen fettigen Haarsträhnen und ungepflegtem, wildwucherndem Backenbart schauen erwartungsvoll zwei flinke, skeptische Augen hervor.
Nein, er studiere nicht, meint er, er fühle sich angeekelt; am liebsten möchte er mit mir auf diese Reise gehen - wann ich denn aufbreche?
Auch er kriegt seine Tasse Tee - er schlägt nie was aus, solange es gratis kommt.
Chapong hat seinen Tee ausgetrunken und verabschiedet sich: er gehe noch etwas studieren.
"Gehst du an deinem Problem arbeiten?" fragt ihn Ismael schelmisch, und ich dopple nach: "Hoffentlich bringst du die Lösung heraus!" "Das sollte ein Kinderspiel sein für einen Mathematiker," ergänzt Ismael, und ich wieder: "Nimm dir jedenfalls Zeit; Hauptsache ist, du fühlst dich danach erleichtert!"
Chapong grinst verlegen und zieht langsam die Tür hinter sich zu, ohne zu antworten.
Albert hat Asien vor zwei Jahren bereist. Er hat eine Menge zu erzählen und verrät mir nützliche Tips und Adressen. Er hoffe, bald wieder zurückzukehren, aber vorerst müsse er noch diese Scheiss-Uni abschliessen. Ich hätte ja Schwein in dieser Beziehung - woher ich eigentlich das Geld nehme?
Ich könne es ihm leider nicht sagen, bedeute ich ihm.
Ob ich arbeite? - Nein. - Ob ich ein Stipendium beziehe? - Ja, aber das decke nur die Uni-Gebühren. - Also dann? - Also dann was? - Woher ich mein Geld nehme! - Ich hätte vor zwei Jahren in Darwin gearbeitet, als Sandstrahlputzer. Guter Job das, und verdammt gutes Geld! Und eine hübsche Stadt, Darwin. Nordterritorium! - Er wisse, wo Darwin liegt. Aber ich wolle doch nicht etwa behaupten, die ganzen zwei Jahre von diesem Geld gelebt zu haben!? - Ich hätte noch andere Quellen. - Vom Alten? - Nein. - Dann? - Ich könne es ihm wirklich nicht sagen. - Durch dunkle Geschäfte? Scheckfälschen? Ob ich überhaupt wisse, wie man Schecks fälscht? Er hätte es einmal gemacht... Ob ich ihm denn wirklich nicht sagen könne, wie ich zu Geld komme? - Nein, wirklich nicht.
Ismael grinst. Auch ich amüsiere mich nicht schlecht. Der faule Albert sitzt auf Nadeln: nur zu gern würde er erfahren, wie man am bequemsten zu schnellem Geld kommt.
"Dieser Tee ist übrigens ganz hervorragend, Ismael!" bemerke ich.
"Danke, Lawrence! Findest du ihn auch gut, Albert?"
Albert winkt ab. Er ist nicht zu Spässen aufgelegt.
Es wird spät. Von irgendwoher hat Albert Wind bekommen, das Ranthir bei mir vegetarisch kochen kommt; nun möchte er zusammen mit seiner Freundin an diesem Essen teilnehmen. Im Gegenzug erklärt er sich bereit, für sämtliches Geschirr zu sorgen.
Ich habe nichts dagegen - solange Hassan nicht kommt.
Ismael lehnt ab. Als Muslim hält er nichts von indischem Pflanzenfrass.
 
 
 
 

11.
 
 

Mittwoch, 9. September

Fragte mich eben: wie verbringe ich eigentlich meine Zeit?
Weiss nun: trinke zuviel, rauche zuviel, kraule dauernd meinen Bart.
Seit zwei Stunden sitze ich vor dieser Schreibmaschine und habe noch kein
 Wort geschrieben - doch, jetzt ein paar Zeilen...
Mein Leben ist wie ein Auslassungszeichen. Im Grunde genommen sogar nur eine Auslassung, ohne das Zeichen. Hier:. Das war mein Leben.
Die Zeichen muss ich erst noch setzen. Hier zum Beispiel: adfmav bnaow4jkr vaoiadskjbrel. Möge dies jemand entziffern und mehr darin erkennen.
 

*

Auf mein schnurriges Bartkraulen hat mich Anita zuerst aufmerksam gemacht. Es geschieht aus reiner Langeweile. Und wenn ich einmal damit begonnen habe, kann ich nicht mehr damit aufhören. So verbringe ich dann den Tag.
Sollte ich ihn beseitigen? Ich meine den Bart.
Interessantes Detail am Rande: Immerhin versuchte ich angestrengt herauszukriegen, nach welchem Muster genau ich den Bart kraule. Scheine da offenbar einen verzwickten "Eins-zwei-und-eins-zwei, Eins-zwei-und-eins-zwei"-Rhythmus entwickelt zu haben, wobei ich auf die erste "Eins" mit Daumen und Mittelfinger ein Büschel Barthaare anzupfe, die ich dann auf "zwei" um den Zeigefinger wickle und auf "und" und die zweite "Eins" nochmals kurz über den Rücken des Mittelfingers gleiten lasse; beim zweiten Durchlauf schliesse ich dann den Zupf mit einem einfachen Wickel um den Zeigefinger ab, wobei die zweite "Zwei" eine Pause darstellt. Alle fünf Minuten oder so wechsle ich zu einem anderen Büschel über, damit sich das erste ausruhen kann; und alle halbe Stunde oder so zupfe ich mir zur Abwechslung ein einzelnes Haar aus (manchmal fällt eins auch von alleine aus), die schmerzende Stelle desinfiziere ich anschliessend mit ein paar Tropfen After-shave.
Das ergibt eine interessante Problemstellung: jemand besitzt einen Bart bestehend aus X Barthaaren, und er beginnt ebendiesen Bart am Tag Y zu kraulen. Er krault ihn durchschnittlich während Z Stunden pro Tag. Nach wie vielen Tagen...?
Scheisse, wäre doch besser Mathik-Lehrer geworden! Muss Walter nochmals darauf ansprechen!
Oh Gott, krault dein Prophet auch in seinem gepriesenen Bart? Dann zähle die Tage...!
 
 

*
 

Mein Leben befindet sich in der Schwebe.
Wie ein Drache im Frühling schwebe ich in der lauen Luft und treibe hierhin und dorthin. Eine unsichtbare Schnur hält mich zurück und verbindet mich mit der Erde unter mir.
Flügel müsste man haben! Wenn ich Flügel hätte, flöge ich endlos über die Erde, hierhin und dorthin, und liesse mich forttragen, so lange und so weit ich wollte. Mit ein paar Flügelschlägen würde ich meine Richtung beliebig verändern, ich könnte zurückkehren oder mich schneller entfernen, in die Höhe steigen oder herniedergleiten, wenden und kehren, kreisen und schweben -
Ich liebe die Schwebe. In der Schwebe stehen einem sämtliche Möglichkeiten offen. So wie mir eben jetzt. Auch mir stehen sämtliche Möglichkeiten offen - ich kann sogar zurück an die Uni, wenn ich unbedingt will.
Man muss nur wissen, was man will, das ist das Problem. In dieser Beziehung ist die Schwebe ein unpraktischer Zustand. Nach der Methode der eliminierenden Selektion dauert es bei diesem Modell Äonen, bis eine klare Richtung erkennbar wird.
Und im übrigen ist mein Problem nicht so sehr praktischer denn prinzipieller Natur: im Grunde genommen geht es nämlich einzig um das Problem der transzendentalen Grundbestimmung des Menschen, die sich in ihrer ursprünglichsten Form auf die Frage reduzieren lässt: WAS SOLL ICH TUN?
So, das hat mich nun wieder zwanzig Minuten gekostet. Vielleicht sollte ich Philosoph werden? Wieviele Kilobrote verdient wohl der so pro Fragezeichen?
  Muss unbedingt Walter darauf ansprechen.
 

*
 

Habe soeben meine Tagebuchnotizen etwas durchgeblättert. Sieht bedenklich aus! Da stehen Kraut und Rüben durcheinander, wildes Zeugs, das niemand versteht - so geht das natürlich  nicht!
Ich muss da mehr Linie reinbringen. Da wimmelt es von Ausflüchten und Paraphrasen, von Auslassungen und vernebelten Anspielungen - scheusslich! Da beginne sogar ich, an meinem Genie zu zweifeln. Dabei muss man unbedingt an sein Genie glauben, wenn man etwas erreichen will im Leben.
Also: bevor da nicht Ordnung herrscht, unternehme ich gar nichts. Wie kann ich mir anmassen, Grösseres anzupacken, wenn ich nicht einmal in der Lage bin, ein ordentliches Tagebuch zu führen?
Ich sehe schon: ich bin noch weit davon entfernt, auf die Verwirklichung eines künstlerisch anspruchsvollen Werkes hoffen zu dürfen. Ich muss eben so lange üben, System und Kontrolle in meinen Wortfluss zu bringen, bis die Voraussetzungen erfüllt sind, mich an etwas wirklich Ernsthaftes zu wagen; sonst vermassle ich womöglich noch ein Meisterwerk.
Ich könnte mich in Kurzgeschichten üben. James wollte immer, dass ich eine Geschichte über ihn schreibe. Einmal hatte ich sogar schon mit dem ersten Kapitel einer Kurzgeschichte begonnen, aber dann wieder aufgehört.
James, ha! Das waren noch Zeiten! Weiss der Teufel, was sich seither ereignet hat.
 

*
 

Schreckliche Erkenntnis: muss auf mein Alter aufpassen. Machte eben eine kurze Hochrechnung und weiss nun: werde zu alt.
Wenn ich da an die drei kichernden Mädchen gestern an der Bar denke, fühle ich mich schon fast wie ein Grossvater: null Bock, wie der Jäger sagt.
Ich werde alt.
Was habe ich in meinem Leben erreicht?
Was habe ich gelernt, ausser dem Ekel?
 
 
 
 
 

12.
 

Donnerstag, 10. September
 

Drunten am Hafen. Wir warten auf die Abfahrt von Martins Schiff.
Sein Boss war auch gekommen, mit Filmkamera und Champagner. Er filmte nicht nur Martin, sondern alles und jeden. Anschliessend tranken wir in Martins enger, niedriger Kajüte den Champagner. Dichtgedrängt standen Leute herum, die ich zum Teil gar nicht kannte, die aber offenbar zu uns gehörten oder zu den anderen beiden Passagieren, die mit Martin die Kajüte teilten.
Martin hielt sich an seinen Boss. Dieser hatte bis zuletzt versucht, doch noch eine Aufenthaltsgenehmigung für ihn zu bekommen - ohne Erfolg: Martin hatte damals ausschliesslich für Studienzwecke einreisen dürfen, und jetzt, da er nicht mehr studierte, musste er nach den Bestimmungen wieder ausreisen. So nahmen sie nun Abschied voneinander und tranken viel Champagner und waren ziemlich laut, während wir übrigen - darunter viele Chinesen aber auch Aussies - mittranken und mit Gelächter und lauten Zwischenrufen zur gehobenen Stimmung beitrugen.
Stephen und Miung standen neben mir, nahe dem Eingang. Sie wussten nicht so recht in die Fröhlichkeit der andern miteinzustimmen, und so verlegten sie sich aufs Grinsen und sorgten dafür, dass mein Glas nie leer wurde.
Dann erschienen auch Francis und Hassan in ihren filzigen Kostümen. Martin strahlte zufrieden und hiess auch sie willkommen und gab ihnen zu trinken - und dann standen sie grinsend und etwas verunsichert vor der Kajütentür rum und nippten sparsam an ihren Getränken.
Sie fragten mich, wie es mir gehe, und ich sagte, gut, wie es ihnen denn selbst gehe, und sie nickten grinsend und sagten, oh ja, auch ihnen gehe es gut. Und dann musste auch ich grinsen, obschon ich eigentlich wütend sein wollte, aber dann sagten wir nichts mehr. Nur einmal bat mich Hassan um Feuer für die indischen Tabakblätter, die Francis und er sich zu winzigen, stinkigen Zigaretten rollten.
Um halb fünf mussten wir das Schiff verlassen. Wir verabschiedeten uns endgültig von Martin, und ich versprach ihm, dass ich ihn auf der Durchreise in Malaya bestimmt besuchen würde, und er bedankte sich nochmals dafür, dass er einige Wochen bei mir hatte wohnen dürfen. Dann ging ich mit Stephen und Miung auf eine kurze Besichtigungstour durch das Schiff, und wir waren uns einig, dass wir eigentlich gut und gerne als blinde Passagiere mitfahren könnten - wenngleich das Schiff einen eher schmuddeligen Eindruck erweckte. Schliesslich gingen auch wir von Bord.
Auf dem Quai vor dem Schiff drängte sich eine dichte Menge fröhlicher und zum Teil trauriger Menschen, die wie wir alle auf die Abfahrt warteten. Wir fanden die Gruppe von Martins Freunden nicht sofort, und so drängten wir uns irgendwo durch die Menge nach vorn bis zur Quaimauer direkt vor dem Schiff und suchten die Decks nach Martin ab.
Und seither stehen wir nun also hier und warten auf die Abfahrt des Schiffes.
Gelegentlich winkt einer von uns zu Martin hinauf, der in der Zwischenzeit auf Deck erschienen ist. Nachdem er zunächst noch den Clown gespielt hatte, ist er jetzt ruhiger geworden.
Natürlich verreist er nicht gern. Er weiss nicht, was er in Malaya tun soll, während er hier viele Freunde und einen gutbezahlten Job zurücklässt.
Ich wäre bereit, mit ihm zu tauschen. Auch ich wüsste zwar nichts in Malaya anzufangen, aber ich wäre wenigstens weg und unterwegs und würde nicht untätig hier rumstehen und warten. Ich finde überall Freunde. Ob hier oder beliebig woanders: sie sind nur Marionetten in einem Spiel und jeder einzelne von ihnen austauschbar; man kann sie beliebig umkleiden oder überhaupt weglassen, ohne dass sich etwas ändert am Spiel.
Jetzt spielen wir Abschiedstheater. In der Hauptrolle sehen wir Martin Fung Tu-ang, von chinesischer Abstammung, Exstudent und Autobiograph in spe, bei seiner Rückfahrt nach Malaya. Er spielt ein lausiges Theater. Lasst uns ihn auspfeifen!
Seine Freunde spielen besser. Sie lachen und scherzen und werfen Papierschlangen, und einer filmt sogar - aha! dort drüben steht der Champagnerboss. Er filmt unsere Abschiedsszene, um ihr die dokumentarische Tiefe und den erwünschten künstlerischen Anstrich zu verleihen.
Musik vermisse ich. Ein Spiel bedarf einer gewissen Klangfarbe. Sogar eine Militärkapelle wäre in diesem Fall willkommen: um etwas Takt in den Himmel zu posaunen.
Aber so haben wir nun die Farbe ohne den Klang: die Farbe der vielen Papierschlangen, die von den Schiffdecks herunterhängen und zum Teil auch nutzlos im Wasser schwimmen.
Papierschlangen haben symbolische Bedeutung: zuerst sind sie zusammengerollt und halten still; dann wirft man sie seinem abschiednehmenden Freund zu; und wenn beide Freunde je ein Ende der Schlange in den Händen halten, dann sind sie noch nicht getrennt und die Schlange hält Frieden - wenn nicht, flattert die Symbolik im Wind.
Verdammt! Wenn das Schiff nicht bald abfährt, gehe ich mich im Terminal betrinken! Ich hasse Abschiede! Und ich hasse farbige Papierschlangen!
Weiter hinten entdecke ich Francis und Hassan. Sie sind auch farbig. Noch immer rauchen sie ihre ekelhaften Tabakblätter. Francis unterrichtet kleine Kinder im Werfen von Papierschlangen. Der Trick besteht darin, dass man das eine Ende gut festhalten muss.
"Was meinst du?" Der kleine Stephen will etwas.
"Ich sagte, du bist so schweigsam geworden."
"Selbst Götter schweigen, wenn Grosses bevorsteht."
"Wieder in einer deiner Launen, hein?"
"Was weisst du schon über meine Launen, du Missgeburt einer chinesischen Spitzmaus."
"Ha! Renz ist traurig, weil sein Geschichtenerzähler abreist," spöttelt die Maus, zu Miung gewandt. "Keine Gutenachtgeschichte für dich heute Abend, hein, Renz?"
"Nein, aber vielleicht könnte ich dich als Hofnarr anstellen."
Darauf weiss der Spassvogel keine Antwort. Er piepst nur, solange die Beherrscher der Lüfte schweigen. Spitzmäuse gehören nicht in die Luft.
Schlangen auch nicht. Von Bord des Schiffes flattert schon ein dickes Bündel Symbolik im Wind - die falsche Symbolik. Die richtige Symbolik ist in der Minderheit und zerreisst, wenn das Schiff abfährt: Rrrrätsch!
Vielleicht hört man es nicht einmal? Dazu bedarf es wohl stärkerer Symbolik. Jemand hätte Francis und Hassan an Bord werfen sollen: die würde man hören. Mensch, möchte ich die beiden zerreissen hören!
"Siehst du die hübsche Frau dort oben?" erkundigt sich die Maus. "Sie sieht beständig zu dir runter."
"Welche Frau, Mäuschen?"
"Jene dort."
"Sie schielt, sie schaut dich an. Soll ich dich hochheben, damit sie dich besser sieht?"
"Ich möchte gern an Martins Stelle sein. All die hübschen Frauen an Bord!"
"Wenn du nicht so leicht wärst, könnte ich dich an Bord werfen. Aber bei deinem Spitzmäuschengewicht besteht ja die Gefahr, dass dich der Wind abtreibt."
"Und dann verliert Renzie seinen neuen Hofnarr," lacht Miung.
"Genau!"
Komm, Schiff, tu mir einen Gefallen, dampf ab und zerreiss deine Symbolik! Haben wir noch nicht genug Abschied gefeiert? Wir feiern seit zehn Uhr morgens: in meiner Wohnung, in Martins Bar, im Restaurant, im Terminal, in der Kajüte, jetzt auf dem Quai - man kann doch nicht pausenlos auf der Bühne rumstehen, ohne zwischendurch auszutreten, um die nächste Szene zu memorieren?!
Diese Quai-Szene zum Beispiel: Ich kenne nicht mal meine Rolle, geschweige denn meinen Text! Man steht doch nicht auf der Bühne rum, ohne ein Wort zu sagen! Und wenn Stephen und Miung nichts sagen, muss doch offenbar ich etwas sagen - aber was?
"Hattest du keine Vorlesungen heute Nachmittag?"
"Nein."
Da haben wir's: Spitzmaus hatte keine Vorlesungen heute Nachmittag!
"Und morgen?"
"Ja."
"Und übermorgen?"
"Was ist los, spinnst du?"
Hopla, mein Fehler! Muss mich in der Szene geirrt haben!
"Denk nur, wie glücklich du auf diesem Schiff wärst! Statt morgen Vorlesungen zu besuchen, könntest du jetzt auf hoher See hübsche Frauen verführen!"
"Das sagte ich dir ja vorhin schon!"
"Eben!"
Ich bin für Stummfilme. Oder für Unterwassertheater. Schiff, wird's bald?
Ich beneide Martin. Der braucht bloss dort zu stehen und traurig dreinzuschauen, und schon hat er seine Hauptrolle gespielt. Ich wäre besser mit ihm gereist. Dann nähmen wir jetzt eine Doppelhauptrolle ein, und jeder bräuchte nur die halbe Traurigkeit zu spielen.
Dann könnte ich jetzt auch schiffahren. Ich liebe Schiffe - vor allem Segelschiffe. Am liebsten würde ich mich in ein Segelboot legen und mich für den Rest des Lebens auf den Meeren herumtreiben lassen. Zur Abwechslung würde ich jeweils mit den Fischen etwas Unterwassertheater blubbern oder mit den Möwen die Ballade vom Wind kreischen - und wenn es mir ganz langweilig wird, ginge ich irgendwo vor Anker um Spitzmäuse zu fangen - und schon könnte ich wieder mit richtigen Professionellen Theater piepsen.
Die Ballade vom Abschied: "Piiiiiiiiep! Pi-pi-pi-pi-piiiep-piiiiiep!"
"Sonst geht es dir gut?" Spitzmaus hat keinen Sinn für Klangfarbe.
"Ich friere. Dieser Jammerkahn dürfte langsam Wasser schaufeln, wenn du mich fragst."
"Ich würde aber nicht dich fragen; ich würde den Captain fragen."
"So, würdest du? Ha-ha-ha! du bist aber wirklich drollig. Ich glaube, ich befördere dich zur Graumaus!"
"Du bist aber auch ausserordentlich drollig, muss ich schon sagen."
"So, musst du, hein?"
"Ja, muss ich!"
"Piiiiiiiep! Pi-pi-pi-piiiiiiep!  He, Miung, mir wird's zu kalt hier. Ich geh mal ins Terminal."
"Warte doch, bis das Schiff fährt," bettelt der feiste Miung. "Es kann nicht mehr lange dauern."
"Mir geht's zu lang. Ich warte im Terminal auf euch."
"Okay, ich komme auch mit. Hier passiert sowieso nichts mehr."
"Wir gehen drinnen etwas trinken, und wenn das Schiff abfährt, kommen wir wieder raus und winken zum Abschied, okay?"
"Okay."
Viele Leute scheinen ebenfalls und noch vor uns die Geduld verloren zu haben: die Reihen haben sich gelichtet. Und der Boss hat offenbar keinen Film mehr: er hat aufgehört zu filmen.
Francis und Hassan noch immer da: filzig und sudlig und lumpig und schlapp.
Abfahrt, ahoi! Lasst uns den Abschied begiessen!
 
 
 
 

13.
 
 

Freitag, 11. September  Mitten in der Nacht
 

Herrlich, endlich wieder allein zu sein! Liege in meinem Bett und geniesse es, faul da zu liegen und genüsslich vor mich hin zu dösen.
Draussen herrscht stockdunkle Nacht: Neumond. Und nicht das zarteste Geräuschchen stört die Stille dieser Nacht.
Welche Ruhe! Welcher Frieden!
 

*

6 Uhr 30

Welch überwältigendes Gefühl, so früh am Morgen zu erwachen!
Draussen wird es hell. Von meinem Bett aus sehe ich ein grosses Stück klaren, blauen Himmels; und ich sehe, wie ein leises Lüftchen mit den feinen, weissen Gardinen vor dem Fenster spielt.
Welch herrlicher Tag!
Und ich bin ein Teil davon. Ich fühle mich so leicht in meinem Bett - ich bin ein Teil seiner füllenden Wärme in der ich schwebe - wie das laue Lüftchen, das sich um die Falten der Gardinen kräuselt - und ich bin ein Teil des klaren Himmels, der sich wie ein Lichtstrahl im Glas des Fensters bricht - und das Licht ist Teil meines Haares, dem es seinen Glanz verleiht - und mein Haar ist Teil des duftenden Kissens - Teil der schwebenden Helle des Zimmers - seines feinen, schlummernden Duftes - und ich bin ein Teil des Teils...
 

*

Kurz vor 11 Uhr

Nun, es wird wohl langsam Zeit, dass ich aufstehe.
Aha! draussen rührt sich was. Der geübte Tagesverkehr, das geordnete Kleinstadtgeschnatter hat eingesetzt.
Ein prächtiger Tag! Wolkenlos und warm, beinahe windstill - das ist des Winters Ende, das bedeutet Frühling!
Welch wunderschöner, herrlicher Tag!
Ah! wie wohltuend es ist, sich in seinem Bett zu räkeln und zu strecken.
Gestern habe ich bis in alle Nacht hinein noch aufgeräumt und Martins zurückgelassenen Mist sortiert. Jetzt gehört die Wohnung endlich wieder mir, und sie ist wieder sauber und -
 Sie sieht so friedlich aus? Das muss von den Farben herrühren: vom matten Gelb der Wände, dem lichten Grün des Teppichs, dem leuchtenden Rot der Decke auf dem Bett -
Meine Wohnung ist eine Stätte des Friedens, wie das Auge eines riesigen Zyklons. Hier regt sich nichts - doch draussen wirbelt die Welt im Sturm und dreht sich taumelnd im Kreise!
Hier herrscht Ruhe. Hier prangen unter blauem Himmel die Schweizer Alpen kalt und säuberlich in ihrem schneebedeckten Panorama an der Wand, und hier blickt, spöttisch hinter der Goldfisch-Bowl grinsend, das nacktbusig feist sich brüstende Playgirl direkt ins Bett hinunter zu mir.
Gott, wie man sich wohlfühlt im Bett!
Trotzdem seltsam diese Ordnung, die heute in meiner Wohnung herrscht. Sogar Martins Matratze streunt nicht wie sonst jeden Morgen quer vor dem Sofa-Tischchen auf dem Boden herum, sondern ruht gefällig und ordentlich neben mir hier auf dem Doppelbett. Ich fühle, wie ich selbst, hier und jetzt, am richtigen Ort bin, zur richtigen Zeit. Und ich hätte Angst, wenn ich jetzt aufstünde, dass ich die ganze Ordnung störte und eine wirsche Unruhe in die vorherrschende Harmonie brächte. Ich schämte mich, einen abschätzigen Blick meines Fisch-Weibs einzufangen - oder ein eisiges Runzeln der alpinen Gletscher zu erdulden.
Lieber rühre ich mich gar nicht.
 

*

12 Uhr 30

Bereits Nachmittag, und immer noch im Nest! Lächerlich!
Jetzt aber mal raus! Genug ist genug!
Was haben wir heute? Freitag?
Freitag!
Gestern war Donnerstag; da brachten wir Martin zum Hafen.
Richtig!
Freitag - da geht niemand zum Hafen.
Und morgen ist Samstag. Morgen kommt Ranthir, um hier seinen indischen Gemüse-Curry zu kochen.
Albert der Hippie hat versprochen, vorbeizukommen und eine Liste der Zutaten zu bringen, die Ranthir benötigt. Wird wahrscheinlich heute Nachmittag aufkreuzen.
Morgen habe ich versprochen, Pat zu besuchen. Pat will mir von seiner letztjährigen Europareise berichten. Dazu hat er mich schon vor einer Woche eingeladen - das fand ich so komisch.
Wen soll ich heute besuchen? Früher oder später muss ich ja doch aufstehen - und dann will ich hier so rasch wie möglich weg.
Verdammt! Weshalb gefällt es mir eigentlich so gut in diesem Bett? Und weshalb bin ich heute so müde?
Das muss am Frühling liegen. Ich leide an Frühjahrsmüdigkeit. Draussen sieht man den Beweis: es ist wolkenlos und warm - typisches Frühlingswetter.
Dabei haben wir offiziell noch immer Winter, bis zum 22. September oder so. Das sind nochmals - was haben wir heute? - zehn oder zwölf Tage.
Aber schliesslich macht das Wetter den Frühling, und nicht der Kalender. Ich folge dem Wetter, und das Wetter hat Frühling, und deshalb bin ich müde - wozu also schon aufstehen?
 

*
 
 

"Ich sagte dir ja, du findest ihn im Bett!"  Ismael und Albert!
"He, Renzie, was machst du um halb zwei eigentlich noch im Bett?"
Ich vergrabe meinen Kopf im Kissen.
"Das ist unglaublich! Schläft dieser Faulpelz doch tatsächlich bis um halb zwei!"
Schon recht, schon recht, ich hab's gehört, es ist halb zwei, brauchst es nicht zweimal sagen!
Ich hieve meinen Kopf aus den Kissen. "Bin gestern spät ins Bett!"
Albert nähert sich mit seinem wulstigen Grinsen zwischen Schnurr- und Barthaaren, und mit den boshaft leuchtenden Äugchen mitten im struppigen Gesicht. Irgendwie sieht er aus wie einer der sieben Zwerge aus Schneewittchens Märchen.
Was stimmt nicht mit halb zwei? Ist doch 'ne tolle Zeit! Die Hälfte des Tages verschlafen - das nenne ich werken! Nächstens versuche ich mich an zwei Dritteln! Zuletzt kriegen wir auch noch das Ganze hin!
"Ich habe dir eine Liste der benötigten Zutaten mitgebracht," spricht der Zwerg und setzt sich auf den Bettrand.
Zutaten? Für exotische Gerichte? Welch seltene Kräuter mischt er wohl in seine sagenumwobene, märchenhafte Kost?
"Ranthir hat sie zusammengestellt."
Ranthir, der Inder! Der schwebende Geist hinter den dunstigen, fernen Bergwäldern! Herrscher über Zwerge und Feen, Hüter der Sagen - Verwalter von funkelnden Schätzen - der Träger urzeitalter Rezepte feinster, erlesenster Speisen! "Ich grüsse Ranthir!" spreche ich feierlich und reibe meine verklebten Augen.
Der Zwerg klaubt einen zerknitterten Zettel aus der Jackentasche und glättet ihn auf seinem Hosenbein aus. "Wahrscheinlich hast du ohnehin das meiste, was wir brauchen," meint er. "Schau dir die Liste an. Wenn was fehlt, können wir es gleich einkaufen gehen."
"Gib sie Ismael, der kennt sich hier besser aus."
"Was?!" ruft Ismael in gespielter Entrüstung und  nähert sich zwei Schritte.
 "Ich bin doch hier nicht zu Hause!"
"Fühlt euch zu Hause. Nehmt ihr Kaffee? Die Küche steht zu eurer freien Verfügung."
"Du meinst, wenn wir Kaffee wollen, müssen wir uns selber welchen brauen."
Ismael grinst, er lenkt ein: auf ihn kann ich mich verlassen.
Der Zwerg steht auf. "Komm, Ismael, gehen wir die Liste durch."
Seltsam der Zwerg heute: sehr kooperativ. Ist überhaupt ein seltsamer Tag.
Die beiden gehen in die Küche, machen Inventar; Ismael spült Gläser.
Ich stehe auf, ziehe meinen Baderock an und breite die Bettdecke über dem Bett aus.
Ein guter Tag, sonnig und warm. Ich mache Musik, ergreife mein Badetuch. Ein friedlicher, milder Tag.
In der Küche hat Ismael Wasser zum Kochen aufgelegt. Drei Krüge stehen bereit, in jedem befindet sich Kaffeepulver.
"Ich gehe mal schnell unter die Dusche. Ich sehe, ihr kommt auch ohne mich zurecht."
Ismael grinst. Er grinst immer, wenn er mir etwas nachsieht.
Albert dreht sich um. "Hast du keinen Safran?"
"Safran? Nein, ich glaube kaum."
Ich trete hinaus und wandle wie im Traum nach hinten, gegen den Hinterhof zu. Die Dusche ist frei. Ich trete ein, verriegle die Tür, ziehe den Baderock aus; ich stelle mich unter die Brause, drehe das Wasser an.
Brrrr! heute erlebe ich alles wie durch einen Schleier. Hatten wir Alkohol gestern? Mein Kopf ist in Ordnung - nur die Glieder sind schlapp.
Es ist gut, Freunde zu haben. Sie wecken einen am Morgen (Nachmittag) auf und brauen Kaffee, während man duscht - ohne sie wäre ich heute wahrscheinlich überhaupt nicht aufgestanden.
Ich schüttle mich aus, schüttle mich wach. Puh! welcher Tag. Welcher Nachmittag! Das Leben fliesst an mir ab - wie das Wasser in das runde Abflussrohr - wie der Dampf, der aus dem Fenster zieht...
 
 

Albert und Ismael haben eine Einkaufsliste zusammengestellt.
"In Ordnung?" fragt Albert.
Ich werfe einen Blick drauf. "Sicher!"
"Wenn du willst, kann ich die Einkäufe gleich selber besorgen. Es bringt ja nichts, wenn wir alle in der Stadt herumrennen, wenn es auch einer allein besorgen kann."
"Sicher - völlig deiner Meinung."
"Dann beginne ich gleich heute Nachmittag und bringe alles hierher - morgen können wir uns dann die Kosten teilen."
"Okay."
"Schön; also dann, bis später. Kommst du auch gleich, Ismael?"
Ismael beginnt wieder zu grinsen. "Ich glaube, ich bleibe noch für eine Partie Schach." Er fühlt sich plötzlich sehr zu Hause.
Albert verabschiedet sich. Ismael geht ins Wohnzimmer und stellt die Schachfiguren auf. Ich schlürfe Kaffee.
Auch der Kaffee weckt mich nicht. Heute bin ich Pappe. Heute bin ich Leinen, das in der Luft flirrt. Ich fühle mich irrelevant - wie der schwarze König, den Ismael vom Boden aufhebt und in sein Feld stellt - wie der Turm, den er in die Ecke rückt, oder die Bauern, die er an die Front schiebt - wie eine beliebige Figur, mit der man spielt, die man gebraucht, verschiebt, einsetzt, riskiert, verliert...
"Oh, übrigens!" - Ismael schreit, um die Musik zu übertönen, die er aufgelegt hat: "Saïd sagt, er werde über die Sommerferien ebenfalls heimgehen. Er will auch etwas in Malaya herumreisen. Er will an die Ostküste, und in den Norden bis an die Grenze zu Thailand."
"Hm!"
"Was sagst du?"
"Ich sagte," schreie ich, "nichts!"
"Das wäre doch ideal für dich!" schreit Ismael zurück. "Saïd kennt sich gut aus in Malaya. Und sicher wäre auch er froh, einen Reisegefährten zu haben."
"Wo kommt er eigentlich her?"
"Von Malakka."
"Ah!"
Mein Kaffee ist alle. Und meine Füsse frieren. Der Kachelboden ist eisig kalt.
Ich gehe ins Wohnzimmer und stelle meine Füsse auf den grünen Spannteppich und schaue zu, wie Ismael die letzten Figuren auf ihre Plätze weist.
"Du bist grossartig. Du organisierst meine Reise praktisch von A bis Z, ohne mein Zutun..."
"Ich weiss!"
"...bist du derart versessen darauf, mich loszuwerden?"
"Im Gegenteil! Ich verliere ungern einen Freund!" Er wird verlegen. Das Schach ist aufgestellt, und er hat nichts mehr zu tun. "Bist du bereit?" fragt er mich. "Dann spielen wir eine Partie."
"Okay. Ich mach mir bloss noch etwas mehr Kaffee. Willst du auch noch eine Tasse?"
"Ja, gern."
Zurück in die Küche, auf den kalten Fussboden. Wasser. Elektrischer Siedekrug. Krüge waschen.
Klopf-klopf! Besuch kommt.
"Herein!" Kaffeepulver in die Tassen.
Die Küchentür öffnet sich. "Hallo, jemand zu Hause?" Fanny streckt den Kopf herein. Sie sieht zuerst Ismael im Wohnzimmer ("Hallo, Ismael!" - "Hallo, Fanny!"), dann mich hinter der Küchentür: "Hallo, dort! Stör ich?"
"Nein, du störst nicht, willkommen!"
Zucker in die Tassen. Das Wasser siedet noch nicht.
"Was machst du denn im Morgenrock, mitten am Nachmittag?" Breites, höhnisches Grinsen ihrerseits. Sie nähert sich mir wie eine Katze.
"Hab mir eben die Haare gewaschen."
Sie klemmt mich in die Seite. "Machst dich hübsch für deine Freundinnen, was?"
"Welche Freundinnen?"
"Grosser Gott, woher soll ich das wissen? Deine Freundinnen eben, die du zu einer Tasse Kaffee einlädst!" Sie zwinkert mir zu und gibt mir mit der Hüfte einen Schubs in die Seite. Das Wasser kocht. So hatten wir uns kennengelernt. Üble Erinnerung.
"Nimmst du auch eine Tasse?"
"Okay." Wieder ihr konspiratives Grinsen. Sie will ins Wohnzimmer.
"Warte, trag diese Krüge da rein." Ich schenke das Wasser ein. "Milch hat's im Kühlschrank - falls es noch welche hat."
"Ich trinke meinen Kaffee ohne Milch. Oder hast du vergessen?"
"Ismael nimmt Milch."
"Oh, Ismael nimmt Milch!" Sie geht zum Kühlschrank.
"Was ist?" ruft Ismael aus dem musikerfüllten Wohnzimmer.
"Nimmst du Milch in deinen Kaffee?" ruft Fanny zurück.
"Ja, gern!" schreit Ismael.
"Und ich ebenfalls," füge ich hinzu. "Oder hast du vergessen?"
"Flegel!"
Zucker. Wieviel war das? Ich sollte Würfelzucker verwenden. Mit Pulverzucker hat man keine Übersicht.
Wasser. Milch hat's schon.
"Würdest du uns Löffelchen bringen, Lawrence?"
"Ja!"
Ja-ja, Löffelchen! Löffelchen abwaschen, Löffelchen abtrocknen. Löffelchen hineintragen. "Da!"
"Danke!"
"Bitte!"
Sie haben ein Partie Schach begonnen - gut so. Sie schwatzen - ich höre nicht hin. Sie fragen, ich antworte - ich weiss nicht, was.
Ich bin Nebel. Etwas stimmt nicht. "Ich geh mir eine Omelette braten."
Ja, Martin abgereist. Glücklich? Ja, jetzt allein. Haushalten. Kochen.
Bratpfanne. Butter.
Zwiebeln: im Kühlschrank, bereits geschnitten.
Eier.
Es fühlt sich kalt an. Und dennoch auf eine spezielle Art warm.
Die Form des Eis ist perfekt. Kein Ei gleicht dem anderen, aber jedes Ei besitzt eine perfekte Form - nicht rund wie bei einer Kugel, sondern tropfenförmig - eiförmig.
Welche Harmonie! Jedesmal verschieden - und doch so absolut harmonisch!
Ich will Harmonie. Ich will absolute Harmonie - Harmonie ist das einzige, was ich will.
Gott, gib mir Harmonie - und ich folge dir, wohin immer du willst.
Eier sind gesund. Ich schlage es am Schüsselrand auf - zwei, drei.
Salz. Pfeffer. Etwas Curry. Keine Tomaten im Haus. Gut rühren. In die Bratpfanne. Kleine Flamme. Teller abwaschen.
 

*
 
 

Spielte ein Partie mit Fanny. Verlor. Lächerlich, gegen Fanny zu verlieren.
Ismael vermutete, ich hätte mit Vorbedacht verloren. Verabschiedete sich.
Fanny verabschiedete sich ebenfalls: zwei Stunden später.
Ich sollte einen Psychiater konsultieren. Das Problem ist, dass der mir auch nicht weiterhelfen kann: weiss selbst, was los ist mit mir, bin durch in Psychologie.
Trank zuerst eine Flasche Bier. Dann zwei Kaffeegläser Whisky. Versuchte zu heulen. Ging nicht. Legte Aznavour auf. Ging auch nicht.
Trage immer noch den Baderock. Liege im Dunkeln auf dem Bett.
So ist das also mit mir: sehr unbefriedigend. Aber mein Fehler war es nicht.
Was nun?
Zuerst etwas bessere Musik. Aznavour mag gut sein für die Illusion - aber was ich jetzt brauche, ist etwas Solideres, Handgreiflicheres: Errol Garner zum Beispiel.
Komm, Errol, gib's ihm - ja! Er hämmert und singt und swingt und stampft mit dem Fuss den Rhythmus dazu - lauter, Errol! - ja! - bäh-badu-badu-badu -
 

Worauf es ankommt: zu vergessen. Sich zu erinnern ist in Ordnung - aber die Erinnerung darf nicht Überhand nehmen. Sie darf keine Gestalt annehmen.
Ich weiss, ich beging einen Fehler heute. Der ganze Tag stand unter einem ungünstigen Zeichen.
Zum Beispiel: jetzt ist es kurz vor zehn. Fanny verliess mich bestimmt vor sieben - das heisst, ich habe drei Stunden vergeudet mit Nichtstun.
Und ich tue immer noch nichts.
 

Ich liebe die Dunkelheit. Im Dunkeln sieht man nichts - oder gerade genug, um eine Schallplatte umzudrehen: bu-badu-badu-badu-
 In seinem letzten Brief (worin er mir mitteilte, dass er das Geld abgeschickt hat) fragte mich Walter, ob ich mich stark verändert habe? Und er fügte hinzu: nach meinen letzten Briefen zu urteilen habe er eher den Eindruck, dass sich an meinem alten, zynischen Weltenkummer gar nichts geändert habe.
Das wär's dann wohl: niederschmetternd die Feststellung, dass ich meine Jahre damit vergeude, mich nicht zu verändern. Meine wirren Jahre lassen mich genau dort landen, wo ich gestartet war: in der Misere, die keine Grenzen kennt und die sich nie ändern wird.
Was habe ich erreicht?
Ich habe erreicht, die Möglichkeiten zu erschöpfen, mich jemals zu ändern. Darin war ich meisterhaft: meine Möglichkeiten zu erschöpfen. Zuletzt schöpfte ich sie gleich kellenweise in den Eimer.
Was für ein Tag! Er hat irgendwie gut begonnen - und jetzt - ?
 

"Hallo, Renz!"
Oh Gott!
"Hallo! Bist du's, Yussuf?"
"Ja. Wir dachten schon, es sei niemand zuhause."
"Doch, doch, ich bin."
"Komm nur herein, Jane!" Yussufs Schatten in der Küche! Ich hörte ihn weder anklopfen noch hereintreten. Und dort folgt Janes Schatten. Die jungen Leute von heute haben keine Manieren!
Ich drehe das Licht an. Es blendet. "Bitte, kommt herein!"
"Wir sahen kein Licht in der Wohnung - aber dann hörten wir die Musik - "
"Ja, die Musik: sie ist etwas laut." Ich drehe die Musik leiser.
"Ich hoffe, wir stören nicht?" Jane ist etwas verlegen in der Küche stehengeblieben. Ich frage sie nicht danach, wo Harriet geblieben ist.
"Nein, ganz und gar nicht. Ich hab eben eine heisse Dusche genommen - und danach fühlte ich mich dermassen müde, dass ich mich etwas hinlegte und dabei offenbar einschlief. Bitte, komm doch herein, Jane!"
"Wir waren gerade auf dem Weg zum Weinhaus nebenan" - Yussuf wühlt in meiner Schallplattensammlung -, "da dachten wir, wir schauen schnell mal bei dir rein."
"Das ist nett. Gebt mir eine Minute - ich bin gleich soweit. - Was steht denn diesen Sonntag auf dem Kulturprogramm in Dalkeith?"
"Ein italienischer Film - mit Mastroianni, glaube ich."
"Kannst du Billette besorgen?"
"Natürlich!"
Gut, ich bin wieder im alten Trott. Die Frage der Zeit reduziert sich auf jene der Organisation: Turnschuhe, etwas Eau de Cologne, Pullover - die Zähne werden wir uns mit Wein putzen.
"Voilà! Gehen wir?"
"Vergiss die Musik nicht!"
Jawohl, die Musik. Und die Zigaretten. Und: Licht aus!
 

Das Weinhaus war voll. Jane wollte nicht bleiben, und so fuhren wir zu einem anderen Haus in Subiaco.
Yussuf erzählte aus freien Stücken, warum er mit Jane ausgeht. Etwas Abwechslung, meinte er, tue jedermann gut - Harriet gestehe er schliesslich das gleiche Recht zu. Jane fand diese Haltung stillschweigend in Ordnung - und ich dem Wein zuliebe ebenfalls.
Ganz wohl in seiner Haut schien es ihm jedoch nicht zu sein. Jedenfalls drängte er mich, zu einem letzten Glas mit nach Hause zu kommen. Und dort zeigte sich rasch, dass Harriet seine liberalen Ansichten mitnichten teilte. Sie zog sich in den Schmollwinkel zurück und fühlte sich zu Recht hintergangen - und ich unterstützte sie in ihrer Haltung und fand, dass Yussuf zumindest für einen würdigen Ersatz hätte sorgen müssen und Harriet nicht einfach mit einer Zweiliterflasche Rotwein allein zurücklassen dürfen.
Ich fand kaum Zeit auf die Idee zu kommen, dass möglicherweise ich selbst als Ersatz hätte vorgesehen sein können - da kam Fanny mit Joan vorbei.
Wir starrten uns während einer langen Sekunde an. Dann begann sie zu grinsen und rief aus: "Oh! Hallo, Renz! Schon lange nicht mehr gesehen, was?"
Sie hatte Nerven! Mir kam der Wein zu Hilfe - und mit einem Mal begann es mir bei Yussuf zu gefallen. Ich bat ihn, seine Gitarre rauszuholen, und Joan (sie hatte ihre Querflöte mitgebracht) setzte sich zu mir und begann auf ihrer Flöte zu spielen, während Yussuf versuchte, sie auf der Gitarre zu begleiten - und dann zündeten wir Kerzen an und tranken weiteren Wein, bis schliesslich sogar Harriet ihren Missmut vergass und sich ihrer Rolle als Gastgeberin besann, in die Küche ging und mit Salzstangen und Nüssen zurückkam und uns fragte, ob wir Kaffee wollten: wir wollten alle. Und während wir auf den Kaffee warteten und bei Kerzenlicht auf dem Teppich herumlagen, unterhielt uns Fanny mit ihren unmöglichen Klatschgeschichten und Backfischwitzen, die kein Ende nahmen.
Dann kam Ahmed. Er hatte in der Bibliothek studiert, und als er Fanny nicht zu Hause antraf, vermutete er sie hier.
Joan verabschiedete sich. Ich fühlte mich müde und betrunken und wollte ebenfalls heim. Joan anerbot sich, mich im Auto mitzunehmen, aber ich zog es vor, zu Fuss
zu gehen und etwas frische Luft zu schnappen.
Schliesslich begleitete ich Ahmed und Fanny noch bis zu ihrem Haus. Ahmed erkundigte sich, wie es um meine Reisevorbereitungen stünde. Und Fanny fragte einmal mehr, was ich denn den ganzen Tag triebe, jetzt, wo ich weder studierte noch arbeitete.
Die Nacht war kalt und lautlos. Um den Heimweg zu verlängern, zog ich durch dunkle Nebenstrassen. Zuletzt ging ich noch bei meinem Postfach vorbei.
Es war keine Post da. Es wäre eine Möglichkeit gewesen.
Ich gehe heim. Dort hätte ich sein sollen.
Möglichkeiten sind Rollen, die man abrollt - im Briefkasten - vor dem Spiegel - Rollen, die man auf ihre Tauglichkeit prüft, bevor man sie verwirft.
Und wenn es nichts mehr zu entrollen gibt, entwirft man sie selbst. Damit das Spiel weitergeht.
Piep! Piep!
 

*

Welch ein Tag! Ich weiss nicht einmal, ob das gut oder schlecht ist, wie er endet.
Jedenfalls hat er zu lange gedauert. Und sicher ist, dass er geendet hat: es ist nach Mitternacht.
Ein Tag ist eine Frage der Definition. So wie der Frühling. Wie das Leben.
Ab jetzt definiere ich die Jahreszeiten.
 
 
 
 

14.
 

Samstag, 12. September

Nwafo führt mich in seinem Auto spazieren. Er holte mich im Weinhaus ab, und jetzt fahren wir mit offenen Fenstern und in gemütlichem Tempo durch die südlichen Vororte der Stadt. Ich bin in Ferienstimmung. Es ist gut, dem Alltag aus dem Weg zu gehen und den See entlang spazieren zu fahren.
"Gestern kam Fanny vorbei."
Wir fahren einen Hügel hinauf, weg vom See. Es gibt keine Strassen, die direkt um den See herum führen. Diese Erfahrung hatte ich damals in meinen ersten Tagen in Perth schon gemacht. Man fährt durch die Vororte der Stadt wie durch einzelne, in sich abgeschlossene Dörfer, die alle ihren eigenen Charakter und ihr eigenes Zentrum besitzen, in denen sich die Läden gruppieren.
"Was wollte sie?"
Von der Anhöhe aus erhaschen wir einen flüchtigen Blick auf den See hinunter. Ich liebe diese Ausblicke. Verschiedene Stellen haben Postkarten-Idyllencharakter. Heute haben wir jedoch keine photographischen Ambitionen; die letzten Bilder schoss ich vor bald einem Jahr - damals mit Sarah.
"Sex."
Pat heute Morgen war ein Langweiler. Ich besuchte ihn im College - und dann ödete er mich mit seinen Geschichten an über Europa und die Städte, die er besuchte, und die Fahrpreise, die er bezahlte - um von ihm wegzukommen, lud ich ihn schliesslich ins Weinhaus ein, was er toll fand und echt europäisch - ausser dass er den Wein nicht vertrug, sodass ich mich vermehrt der Barfrau widmete: sie stammt aus Melbourne und findet Perth echt langweilig und sehnt sich zurück nach Melbourne und arbeitet nur hier, um genügend Geld zu verdienen um nach Melbourne zurückzukehren...
"Und du gabst ihn ihr?"
Die Segelboote sind noch nicht auf dem See. Dabei haben wir heute Samstag. Vielleicht segeln sie morgen, morgen ist Sonntag. Etwas haben mich Pat und die Barfrau gelehrt: man verreist nicht, weil es einem nicht gefällt. Das Leben bleibt sich überall gleich. Ob hier oder dort: Reisen ändert nichts. Leben findet in der Ruhe statt, im Bett, auf dem Fussboden, über der Theke. Nicht im Umherreisen.
"Nein."
Nwafo ist kein Langweiler. Nur einmal liess er sich aus der Reserve locken, als ich in meiner Wohnung eine Spinne zerdrückte und er moralische Bedenken anmeldete und sich dabei in eine Diskussion einliess, der er schon rein dialektisch nicht gewachsen war und die er schliesslich mangels ausreichendem Wortschatz aufgab und sich dabei masslos aufregte, während die Spinne ohnehin längst tot und nur noch gleichsam symbolisch an der Wand klebte.
"Nein?"
Die Strasse rollt nach Osten hinunter, dem See entgegen. Wir nähern uns dem Expressway, der uns über die Narrows Bridge in die Nordhälfte der Stadt zurückbringt. Südostasien wird fotogen sein, da werde ich wieder photographieren. In den Broschüren des Reisebüros fanden sich tolle Ansichten von Vulkanen, Strohhütten und Reisfeldern, von Wasserträgern, kämpfenden Hähnen und grazilen Tänzerinnen.
"Ich konnte nicht."
Zu Hause sind sie wahrscheinlich bereits am Kochen. Albert brachte heute Morgen die Sachen vorbei und sagte, Ranthir würde um vier Uhr kommen, um mit dem Kochen zu beginnen. Ich sagte, ich könne nicht versprechen, dass ich um vier zuhause sein werde, aber auf halb sieben sei ich sicher zurück. Bis dann, meinte Albert, sollte das Essen fertig sein. Jetzt ist es kurz vor sechs.
Wir fahren über die Brücke.
 

*

"Nein, siehst du, wir glauben, dass alle Lebewesen beseelt sind." Ranthir ist sehr darum besorgt, sich richtig verstanden zu wissen. "Wir können kein Lebewesen töten, das würde seine Seele - eh - verletzen."
"Bist du abergläubisch?" fragt Albert, der sich unentwegt das Essen in den Mund stopft - mit den nackten Fingern, wie wir andern auch.
"Oh! das hat nichts mit Aberglauben zu tun," versichert Ranthir. Er sitzt steif auf seinem Stuhl, wie eine Statue, mit dem Kinn in die Höhe gestreckt. Und während er in der Linken seinen Teller hält, beschreibt er mit der Rechten verzwickte Figuren in der Luft, die seine Ausführungen bildhafter gestalten sollen. "Das ist unsere Religion. Danach essen die guten Gläubigen keine Teile von beseelten Lebewesen." Seine Rechte beschreibt ein Auslassungszeichen in der Luft - und dann senkt sie sich in den Teller, gräbt sich ins Essen und beginnt darin einen Ballen aus Reis und Bohnen zu kneten.
"Leiden wohl deshalb so viele Inder an Unterernährung?" frage ich ihn in meiner Rolle als Gastgeber.
"Oh nein, pflanzliche Nahrung ist sehr nahrhaft! Pflanzen liefern sämtliche Nährstoffe, die der Mensch braucht!"
"Das wage ich allerdings zu bezweifeln."
"Das darfst du; trotzdem stimmt es. In einem einzigen Ei zum Beispiel finden wir genügend Vitamine..."
"Halt, halt!" unterbricht Albert. "Du meinst, ihr esst Eier?"
"Natürlich!" Ranthirs Rechte hebt den fertig gekneteten Futterballen über den himmelwärts gerichteten Mund.
"Aber Eier sind doch tierische Produkte!?"
"Aber keine beseelte!" Der Ballen fällt in den geöffneten Mund, welcher automatisch zu kauen beginnt.
"Das stimmt aber nicht, dass Hindus Eier essen dürfen! Als ich in Indien war, durften Hindus keine Eier essen - Milch trinken übrigens auch nicht!"
Der kauende Mund deutet ein verzeihendes Lächeln an: "Aber ich trinke doch jeden Morgen zwei Gläser Milch. Du musst mir glauben, dass wir Milch und Eier geniessen dürfen. Schliesslich bin ich selber Hindu und sollte es daher wissen."
"Schön, vergiss die Eier." Das bin ich wieder; ich liebe intelligente Diskussionen. "Was mich an deiner Religion stört, Ranthir, ist der Mangel an saftigem Fleisch darin. Eine Religion ohne Fleisch präsentiert sich doch irgendwie - wie soll ich sagen - fade; findest du nicht?"
Nwafo grinst. "Ich sehe den Vorzug auch nicht ein!" Ich hatte ihn nicht ohne Grund eingeladen.
"Das Fleisch ist verderblich," erklärt der Hindu vollmundig kauend. Sein Teller ist noch zu drei Vierteln voll. "Im Fleisch sehen wir das Böse. All unser Streben richtet sich danach, uns vom Fleisch zu erlösen."
"Da kenne ich bessere Mittel," schnödet Nwafo.
"Lass ihn doch ausreden!" Albert bekundet plötzlich grosses Interesse. Er hat nichts mehr zu essen und ist zu faul, seinen Teller in der Küche nachzufüllen.
"Das Streben eines jeden Hindus ist es, die allerhöchste Seligkeit im Leben zu erlangen." Er zeichnet etwas in die Luft, was wie ein Pfeil aussieht. "Die können wir nur erreichen, indem wir allem Körperlichem entsagen und die Wahrheit im Geist suchen. Durch die Kraft des Geistes besiegen wir die niedrigen Begierden des Körpers, welche uns an dieses Leben fesseln."
"Ihr glaubt an die Seelenwanderung, nicht?" Alberts kleine hässliche Puppe bekundet plötzlich auch Interesse. Ich sehe sie heute zum ersten Mal.
"Ja," sagt Ranthir, nachdenklich kauend.
"Was versteht man eigentlich genau darunter?" will die Kleine wissen.
"Wir glauben an die Wiederfleischwerdung,"  erklärt Ranthir bereitwillig, ohne jedoch die Puppe anzuschauen. Er blickt immer noch steif gegen die Decke - wie gen Himmel: die Wahrheit liegt bekanntlich oben. "Für uns hört das Leben mit dem Tod nicht auf. Wir verlassen bloss eine Erscheinungsform, um eine andere anzunehmen." Sein in Zeitlupe vorgetragener, kauender Fanatismus hat etwas Unheimliches an sich. "Dies ist ein Zyklus, der bis in alle Ewigkeit dauert, und den wir nur sprengen können, indem wir durch völlige Entsagung in die allerhöchste Seligkeit eingehen." Er hält einen Moment inne, um seine Rechte wieder in den Teller zu versenken. "Das nennen wir Moksha."
"Gibt es dort auch Frauen?" Gut, Nwafo, gib's ihm!
Ranthir lächelt nachsichtig. "Nach dem Moksha gibt es nichts mehr - keine Form, keine Gestalt, keine Individualität. Moksha bedeutet das totale Vergessen, die totale Auflösung aller Wünsche und allen Verlangens." Seine Finger kneten bedächtig einen neuen Futterballen. "Alles Irdische, alle Werte, alles Bewusstsein verliert seine Existenz; was bleibt ist ewig dauernde Glückseligkeit. Moksha ist das Eingehen in die göttliche Wahrheit. Moksha ist alles und nichts, es ist Glückseligkeit."
"Wohl gesprochen, Ranthir, Moksha sei mit dir. Dein Curry ist übrigens ausgezeichnet - ich geh mir meinen Teller neu auffüllen."
"Nimm meinen auch mit!" Der faule Albert streckt mir seinen Teller entgegen. Aber seine Puppe streckt ihm ebenfalls ihren Teller entgegen und flüstert ihm etwas ins Ohr, mit dem Resultat, dass Albert tatsächlich aufsteht und mir und Nwafo mit beiden Tellern in die Küche folgt. Die Puppe bleibt mit dem Hindu allein im Wohnzimmer zurück.
"Dieser Ranthir schwatzt viel Unsinn," meint Albert. "Wie kann er behaupten, alle Menschen würden wiedergeboren, wenn es dafür gar keinen Beweis gibt?"
Er schöpft sich eine Kelle Gemüse-Curry auf den Teller. "Ich zum Beispiel bin mir nicht bewusst, jemals früher existiert zu haben."
"Ich schon," meine ich. "Ich kann mich an vier, fünf - sechs? - frühere Leben erinnern. Einmal war ich sogar Clochard in Paris. Tolle Stadt, Paris!"
"Und ich war einmal Cäsar," meint Nwafo.
"Da fällt mir ein: einmal war ich Brutus."
"So, du warst das also? Warte, mit dir hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen!"
"Keine Hühnchen, hier! Wir sind unter Vegetariern! Der Hindu kocht übrigens nicht schlecht, findet ihr nicht?"
"Wenn er nur nicht so viel schwätzen würde!"
"Ich höre ihm gern zu," meint Albert. Er füllt seinen Teller so auf, als müsste er ihn mit der Puppe teilen. "Nur scheint er selber nicht genau über seine Religion orientiert zu sein. Niemand schreibt zum Beispiel vor, dass ein Hindu Vegetarier sein müsse. Ein Hindu darf nur kein Kuhfleisch essen, Kühe sind heilig."
"Vorhin hast du behauptet, sie dürften keine Eier essen."
"Da sprachen wir über Vegetarier."
"Mir ist es egal, was ein Hindu darf oder nicht darf," meint Nwafo.
"Begreiflich. Als Muslim interessiert dich nur, wie viele Frauen du halten darfst."
"Ich kann so viele Frauen halten, wie ich will."
"Ja, aber du darfst nur vier davon heiraten."
"Wer will denn schon heiraten?!"
"Du ziehst es vor, in der Sünde zu leben?"
"Ich bin kein Christ!"
Albert füllt den zweiten Teller. Diesmal schöpft er kleinere Portionen. "Wir werden nicht alles aufessen können," meint er.
"Kaum."
"Ich könnte etwas für meine Eltern mitnehmen, die lieben Curries."
"Ich kann dir dazu die Erlaubnis erteilen - vorausgesetzt, du hilfst beim Abwaschen."
"Das könnt ihr beide besorgen, du und Nwafo habt nicht mal beim Kochen geholfen!"
"Aber ich habe immerhin die Küche zur Verfügung gestellt, vergiss das nicht. Und ihr habt mir die ganze Schweinerei hier hinterlassen."
"Oh, à-propos: dein Mehlsack rinnt. Als ich ihn vorhin aus dem Schrank nahm, stob das Mehl nur so herum."
"Wie in einem Windsturm, eh? Ich wusste gar nicht, dass ich hier Mehl aufbewahre."
"Du füllst es besser in einen anderen Sack um."
"Hmhm! Komm, lass uns weitere Hindu-Seligkeiten anhören!"
Wir tragen unsere gefüllten Teller zurück ins Wohnzimmer. Die Puppe und der Hindu sitzen sich schweigend gegenüber - der Hindu steif mit gehobenem Kinn andächtig kauend - wie ein Heiliger - wie eine heilige, wiederkäuende Kuh.
 

*
 

Lud Nwafo ins Kino ein, und dann ins Weinhaus, zuletzt noch zu einer Tasse Kaffee nach Hause. Zahle gern für ein wenig Unterhaltung. Als er sich vorhin verabschiedete, bedankte er sich gerührt für den 'netten Abend'.
Netter Kerl, Nwafo.
Beging jedoch einen Fehler, als ich ihm vorhin von Fanny erzählte. Hielt es für einen guten Scherz, bereute es dann aber. Meine, an Glaubwürdigkeit eingebüsst zu haben.
Spinne jedoch nicht, relativ gesehen. Der Hindu spinnt weit mehr als ich. Zudem mogelt er mit Gemüse.
Nwafo fand, dass Chapong ebenfalls spinne: unterhielten uns längere Zeit über ihn. Chapong soll übrigens im College vermisst werden.
Albert spinnt ebenfalls. Sprach davon, dass er sein Studium aufgegeben habe und sich exmatrikulieren lasse: hätte so oder so keine Aussicht gehabt, die Prüfung zu bestehen. Jetzt will er einen Fotografen-Kurs besuchen.
Die Welt spinnt. Sie verstrickt sich in ein Netz von Illusionen und gibt sich eitlen Hoffnungen hin - bis zu den Sternen spinnt sie.
Bin richtig zufrieden. Es war ein guter Tag. Fühle mich erhaben über Leute wie Ranthir. Sie haben ein Problem, von dem sie nur die eine Seite sehen. Sie sind wie der Mond, der vergessen hat, dass er einen Hintern hat.
A-propos Mond: Er könnte sich ruhig langsam wieder zeigen. Der Himmel ist zwar bedeckt - vorhin hat es sogar kurz geregnet - aber trotzdem.
Muss aufpassen, dass ich meine gute Laune nicht verliere. Gehe besser gleich zu Bett. Kann mich ohnehin nicht richtig konzentrieren.
 
 
 
 

15.
 

Sonntag, 13. September
 

Links die Alpen - weiss, panoramisch. Rechts das nackte Weib: privat.
Zwei Stunden lang habe ich nun dieses Bild betrachtet, seitenverkehrt im Kippspiegel der Kommode. Zwei Stunden der müssigen Trübsal, der flüchtigen Reflexion, der matten Einsicht. Ich kämmte mir das Haar - und blieb dabei in der Fratze meines Spiegelbildes hängen.
Trotzdem erstaunlich, wie lange es sich unbewusst so meditieren lässt. Verblüffend insbesondere die Öde des Resultats: ich erinnere mich an nichts, an rein gar nichts.
Zwei Stunden der Leere! Zwei Stunden, die nicht existieren! Ich kämme mir das Haar - jetzt, vor zwei Stunden!
Das Weib an der Wand grinst spöttisch. Ich sollte es herunternehmen - vor allem seit jener Bemerkung von Fanny. Über die Alpen hatte sie damals nichts gesagt; sie geben sich auch entsprechend schweigend.
Andererseits fällt mir auf, dass seit einiger Zeit in der Küche etwas raschelt?
Bis vor zwei Wochen hatte ich kaum Zeit gefunden, zwei Stunden einfach so zu vertrödeln. Aber dann begann das dritte Trimester, und ich gab das Studium auf... - na ja!
Ich vermisse meinen Thai-Freund Chapong. Er pflegte fast täglich vorbeizukommen, um Schach zu spielen, aber jetzt soll er verschollen sein. Laut seiner Putzfrau hat er seit mehreren Tagen nicht mehr im College übernachtet. Ob er sich eine Freundin zugelegt hat? Eher unwahrscheinlich. Eher hat er sich irgendwo verirrt.
Im linken unteren Rahmen des Kippspiegels steckt noch immer der Zweig, den ich einmal vom Kings-Park heimgebracht habe: Eiche oder sowas. Er ist schon lange verwelkt und lässt seine dürren Blätter steif herunterhängen - aber bis jetzt ist noch kein einziges Blatt abgefallen.
Am rechten Rahmen baumelt die afrikanische Perlenkette mit der grossen Meeresmuschel, die mir Nwafo einmal geschenkt hat.
Darunter die Parfüms, das Eau de Cologne, das After-shave, der Talk, die Crèmen, die übrigen Accessoires - der Toilettentisch eines Komödianten.
Wenn ich denke, dass ich tatsächlich einmal Theater spielen wollte! Mrs
Goodwyn war auf die Idee gekommen: sie hatte sich an die Produktion eines Stücks gemacht über die Zeit vor der Kolonisierung Australiens, und darin hatte ich mich für eine Rolle interessiert. Sie lud mich auch zu einer Probe ein - aber dann vergab sie die Rolle einem französischen Überseestudenten.
Welches Theater, welch plumpe Leere! Glanz überall und vielversprechendes Glitzern - und dann: peng! - offenbart sich das hohle Gesicht, das erkenntnislose, leere Gerippe!
 

Ich frage mich, was in der Küche so raschelt? Es klingt nicht nach Küchenschaben; davon gibt's hier zwar jede Menge - aber die rascheln anders.
Hau-ruck! Puh, mein Hintern! Das kommt vom Meditieren! Während der ganzen Zeit war ich auf dem Eisengestell am Kopfende des Bettes gesessen - schon recht, Alter, wir werden uns nicht wieder für zwei Stunden vor einen dämlichen Kippspiegel setzen und den heiligen Tag mit Nichtstun verplempern!

Seltsam: sowie ich mich in die Küche schleiche und das Licht andrehe, macht es dibidibidip! auf winzigen Klauen - und nichts rührt sich mehr! Ein scheuer Gast ist bei mir zu Besuch.
Nun lass mich schauen. Woher kam dieses dibidibidip-Getrippel? Ich glaube unten vom Abguss her. Von meinen drei Küchenschränken?
Klink? - nichts, bäng. Klink? - nichts, bäng. Klink? - nichts, bäng. Doch nicht von meinen Küchenschränken.
Moment: der mittlere Schrank! Klink? - Nanu, mein Mehlsack! Gestern füllte ich das Mehl in einen neuen Sack um - und nun rinnt dieser wieder? Hier: aus einem grossen Loch! Und direkt darunter liegt das abgenagte Sackpapier - als winzige Fetzen, halb verdeckt von einem Rinnsal feinen Mehlstaubs!
Soso, nach meinem Mehl also gelüstet's meinem Gast! Gönn ich's ihm - oder neid ich's ihm? Das ist hier die Frage!
Wer bist du überhaupt, du mein ge-dibidibidip-ter Freund? Bist du vielleicht - ein Mäuschen, hein? Ein vorwitziges, naschhaftes Mäuschen? Warte, dir will ich!
Bis morgen gebe ich dir eine Gnadenfrist - an einem Sonntag entscheiden wir nicht über Sein oder Nichtsein. Sonntags haben wir Ruhetag.
Nach all dieser unnützen Meditation muss ich erst mal draussen frische Luft schnappen gehen.
Ha! Meditation. Meditation hoch den Hintern, ja, und die gespiegelte Wurzel davon, über Hure, mal Firn!
 

*
 

Draussen

Über die Funktion des Frühlings in Australien bin ich mir noch nie klargeworden. Da herrschen doch heute schon Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad - soll das noch Frühling sein?
Dem Frühling traue ich ohnehin nicht. Er schleicht sich so verstohlen daher, als sei er seiner Sache selbst nicht sicher, und beginnt in aller Heimlichkeit, unterirdisch zu agieren und zu spriessen, sich unkontrolliert zu vermehren - und eh man sich's versieht ist er da und allgegenwärtig - ich werde nicht gern überrumpelt!
Mut hat er, das muss man ihm lassen: ein so gigantisches Unternehmen zu beginnen, dessen Ausgang doch eher ungewiss ist - und dann das Ganze kommentarlos, als Programm zu hinterlassen, als Bürde, die nunmehr von andern weiterzuschleppen, zu entwickeln, zu vollenden sei - : das grenzt an Übermut.
Ich hasse Frühling. Nein, ich fürchte ihn. Ich misstraue ihm. Er macht mich nervös, rastlos. Ich möchte weg, fort, auf Reisen - nach Südostasien - aber nicht heim; nach Honolulu - Kukaburu - ins Kuckucksland: dort, wo der Pfeffer wächst, wo es etwas zu lachen gibt - und weiter - in den Sommer, Herbst, Winter...
Wenn ich meine Reise wie geplant auf fünf Monate ausdehne, komme ich genau Ende März nach Europa: Ende Winter! Und dann beginnt wieder ein Frühling! Dann kommt die Frühlingsputzerei - in Europa wird geputzt im Frühling: da wird alter Mist weggeworfen, Staub geklopft, morsche Winkel geschrubbert...
In Australien wird nicht geputzt, jedenfalls nicht speziell im Frühling. Hier spriesst's das ganze Jahr über, und der Frühling wird zum Sommer, bevor es richtig Frühling ist. Überhaupt wird hier die Idee des Frühlings durch die Phantasie ersetzt.
Ich werde über den Frühling phantasieren. Ich werde mir vorstellen, wie das junge Blut lauter rauscht, wie die Gefühle über die Ufer treten, wie sich der Körper reckt und streckt, das Leben neu beginnt - ich werde es mir vorstellen.
Ich werde mir vorstellen, wie das Ganze einen Anfang hat. Ich brauche einen Anfang, einen Ursprung: eine Entwicklung, aus der sich eine Geschichte machen lässt. Irgendwie lässt sich dann alles zu einem Werk zusammenschnüren, aus dem man einen Sinn ersieht.
Eines ist klar: ich brauche diese Geschichte. Ich brauche Vergangenheit. Eine Zukunft ohne die entsprechende Rückendeckung der Vergangenheit ist sinnlos, das muss man gar nicht erst anpacken. Vielleicht tat ich Martin da unrecht.
Ich muss mir zu diesem Thema noch etwas einfallen lassen. Das Problem wird nicht einfach zu lösen sein.
 

*
 

Wieder daheim vor der Schreibmaschine

Bis ich nur wieder meine Gedanken sortiert habe! Weiss nun, worüber ich wahrscheinlich im Spiegel sinnierte: über Eric, der mich, begleitet von Frau und Kind, kurz nach Mittag besuchte: über die mehr als drei Stunden, die er hier verbrachte: über seine weltanschaulichen Ansichten, die er verzapfte - während seine Frau Kaffee schlürfte und das Kind mit meiner Perlenkette spielte.
Er sei Pantheist, sagte er und kam sich dabei selbst wie ein kleiner Herrgott vor. "Gott ist überall!" verkündete er und warf sich demonstrativ in die Brust - und ich schaute hin auf seine Hühnerbrust und sah nichts gottähnliches daran.
Ein lustiger Bursche, dieser Eric. Er beweist Gott, indem er feststellt, dass ich ihn nicht widerlegen könne - sehr logisch! Und da er sich das Wirken der Natur nicht erklären kann, stülpt er ihr kurzerhand einen pantheistischen Modehut über!
Und dann sei er auch Humanist! Er glaube daran, dass sich die Menschen gegenseitig helfen - inter pares divinos, gleichsam; als Nebenleistung solch frommen Lebens, so schloss er, löse sich das Problem der Umweltverschmutzung von alleine.
Sehr fortschrittlich und speditiv seine Ansichten, musste ich zugestehen. Er zumindest (er ist Geologe von Beruf) geht die Probleme von der praktischen Seite her an. Das bemerkte ich früher schon und zwar spätestens dann, als er mir aus einem nordaustralischen Hügel einen Briefbeschwerer bohrte (und diesen noch extra polierte). Wie könnte ich ihm da übelnehmen, dass er an meinem Brahms Violinkonzert keinen Gefallen fand?
"Dieses Gefiedel lehrt mich sowieso nichts," meinte er, er ziehe etwas Volkstümliches vor. Damit konnte ich leider nicht dienen.
Man sollte sich Bekannte wie Hügel zurechtschleifen können. Diesen Eric zum Beispiel finde ich ganz irritierend in seiner ungeschliffenen Form. Und seine hochgesteckte Götterherrlichkeit erst recht, wenn er es als seine grösste Herausforderung betrachtet, den menschlichen Intellekt über die tierischen Triebe zu erheben! Schrecklich abgegriffen die Idee - und natürlich eine pantheistische Fallgrube.
"Ich habe ein Verlangen nach einer besseren Welt!" erklärte er feierlich - und ein Tier sei bekanntlich nicht an Fortschritt interessiert: deshalb!
"Ich bin so ziemlich zufrieden mit der Welt wie sie ist," erwiderte ich trotzig.
"Willst du damit sagen, du strebst nach nichts?!"
"Genau!"
"Du meinst, du bist kein Intellektueller?!"
"Vorwiegend ein Tier!"
"Dann können wir ebensogut zurück ins Mittelalter gehen!"
"Gehen wir - ich habe nichts dagegen!"
 

Ganz und gar widersprüchlich, die Person! Widerlich seine ranzigen Sprüche, halbherzig und unausgereift sein Gespinst!
Oh, wie ich sie verachte, die Heuchler, dieses faule Gewächs! Und wie ich sie beneide, die selbstsicheren Tore - die Rosen, die sich ihrer Dornen schämen!
 

Ja, darüber hatte ich wohl meditiert. Ich möchte so sein wie sie: hohle Gerippe, die sich mit beliebigem Stroh ausfüllen lassen.
Ich fülle meine Hohlheit mit Alkohol ab. Im Alkohol finde ich meine Erkenntnis - oder fand sie zumindest früher.
Und die Erkenntnis lauerte auf ein Zeichen von mir.
Oh, sie konnte warten, sie hatte Zeit! Sie umwarb mich, sie putzte sich auf, machte sich rar - dürstete mich aus, unendlich langsam, spöttisch und grausam -
- und dann kam sie: Pfeil um Pfeil!
 

*

Ich kriege es langsam satt, jeden Tag vor dieser blöden Schreibmaschine zu sitzen und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich sonst noch schreiben könnte. Meine Finger haben sich bereits erstaunlich gut an die Tasten gewöhnt, und so erübrigt es sich eigentlich, weiter zu üben.
Falls ich jedoch länger hier sitzen bleibe, werde ich womöglich noch sentimental.
 

Sentimentalität ist die Mutter der Poesie, die Grossmutter der Symbolik: die hurende Geschlechtsmutter der Kunst.
Ich liebe 'huren': es klingt gut. Es sieht auch gut aus und liest sich nicht schlecht.
Wie mein 'Pfeil um Pfeil' dort oben. Das war auch gut. Ich sollte eine Ode an meine Pfeile schreiben.
 

*
 

etwas später
 

Versuchte es tatsächlich: es war ein Reinfall! Das Projekt fiel durch infolge zu
vieler Symbole.
Ich hasse Symbole: sie nehmen es zu genau. Und im übrigen stimmt es nicht, dass ich um Gnade bat: ich suchte lediglich einen Reim auf blutiges Bade.
Aber es stimmt natürlich, dass ich keine richtige Wahl mehr habe. Nur scheint mir, dass ich früher noch über mehr Spielraum verfügte. Damals war eben meine Schale noch intakt.
Verwünschte Henne! Ich kenne sie nicht einmal!? An wem kann ich mich rächen? Mit welchem Recht zwingt sie mich zum Leben und zum Sterben?
Was soll's! Ein ungeborenes Küken erhebt keine Ansprüche. Es hat den erhaltenen Auftrag auszuführen und keine unnötigen Fragen zu stellen.
So wie ich. Statt in meiner verstaubten Weisheitstruhe zu wühlen, würde ich besser daran tun, an einem konkreten, messbaren Projekt zu arbeiten, das mich weiterbringt und mein Problem ein für allemal löst.
Ich muss an dieser James-Story arbeiten, die Idee erscheint mir nützlich.
Ich bin ein wenig wie eine werdende Mutter, die Angst davor hat, ihr Kind zu gebären.
Oh, Mutter, spreiz deine Beine, press deine Frucht hervor!
Die Henne! Sie glaubt wohl plötzlich goldene Eier zu legen!
Mut, alte Henne! Zeig uns dein goldenes Ei! Es ist nicht dein erstes - und es wird nicht dein letztes sein!
 
 
 
 
 

16.
 

Montagmorgen, auf der Post
 

Ein Telegramm an Hassan! Und keine Post für mich! Ich zahle Postfachgebühren, damit sich dieser Hund seine Post hierherschicken lässt! Nachdem ich ihn aus der Wohnung geworfen habe, muss ich ihn nun offenbar auch noch aus meinem Postfach werfen! Warte nur, Bürschchen!
Das Telegramm kommt aus Singapur. Wahrscheinlich von seinem Vater. Was wohl der Alte darin schreibt?
  "Komm sofort heim!" oder: "Kein Geld mehr!" Ich möchte wissen, was drin steht!
Soll ich es öffnen? Schliesslich lag es in meinem Postfach.
Ich könnte es ja auch wegwerfen. Oder zurückschicken: "Adressat unbekannt!"
Oder ihm das Telegramm bringen. Diese Möglichkeit besteht durchaus.
Zuerst muss ich auf die Bank, ich brauche Geld. Und dann muss ich meinen Alkoholvorrat aufstocken. Dann brauche ich frische Eier...
Ach ja, das Rattengift! Das Rattengift darf ich nicht vergessen.
 

*


 

Nachmittags

Klopf-klopf! Keine Antwort. Ist der Hund ausgegangen? Klopf-klopf-klopf! Ich kann das Telegramm auch einfach unter der Tür durchschieben.
Bäng, bäng!
Aha, etwas rührt sich. Ich versuche die Klinke - verschlossen.
"Wer ist da?" Wie ein verängstigtes Kind ruft er. Wie ein verhätscheltes Schosshündchen.
"Renz!"
Vielleicht öffnet er nicht einmal? Vielleicht glaubt er, ich komme, um ihn zu verprügeln?
"Moment!"
Hätte das Telegramm doch lesen sollen. Wer weiss: vielleicht steht etwas Lustiges darin?
Der Schlüssel dreht sich, die Tür geht auf. Da steht er, halbnackt im verdunkelten Zimmer - und rechts hinter ihm liegt sowas wie Francis auf dem Boden.
"Ah, du bist's?" sagt er verschlafen.
"Verblüffend, nicht?"
Er mustert mich misstrauisch - dann weicht er zurück. "Bitte, komm rein!"
Ich trete ein. Das Zimmer stinkt nach Rauch und zu vielen Menschen. Am Boden simuliert Francis Schlaf auf zwei Wolldecken. Kleidungsstücke liegen rum.
"Ihr schlaft ziemlich lang, wie ich sehe."
"Wir kamen spät heim gestern." Er geht zum Studiertisch und greift nach einem Paket Zigaretten. Er trägt nur einen knappen, schwarzen Slip.
"Und Francis hat sich hier fest niedergelassen?"
"Mehr oder weniger, ja." Er lacht verlegen und sucht nach Zündhölzern. "Zigarette?"
"Hab selber welche." Ich schaue mich in dem stinkigen Raum um: überall Unordnung - ein Filzhut, Halsketten, Kostüme. Ich weiss nichts zu sagen.
Hassan zündet sich seine Zigarette an und wirft die Zündholzschachtel achtlos auf den Tisch zurück. Sein langes, schwarzes Haar, das er früher sorgsam zu bürsten pflegte, steht ihm schlampig, in verfilzten Strähnen vom Kopf ab.
"Du hast dich noch nicht entschieden, wann du gehst?" fragt er. Dazu zieht er ein paarmal kurz an der Zigarette, den Rauch gleich wieder ausstossend.
"Vielleicht Ende Jahr."
Er weist auf das ungemachte Bett. "Willst du dich setzen?"
"Ich bleibe nicht lange. Ich bin gekommen, um dir dieses Telegramm zu bringen. Es lag in meinem Postfach."
"Oh, danke." Er nimmt es entgegen, ohne draufzuschauen. "Wie läuft's bei dir?"
"Soso." Ich muss an seinen kürzlichen Spruch denken: Was ich ihm zu bieten hätte? "Und hier?"
"Oh, es ist immer was los." Er hat sich langsam auf dem Bett niedergelassen. Nun studiert er eingehend den Absender auf dem Telegramm. Dann blickt er wieder hoch und wird übermütig. "In letzter Zeit war ich konstant high. Ein Mensch gab uns neulich eine Menge Heu auf einer Party..."
"Ach ja, einfach so: gratis, nehme ich an."
"Ja."
Francis wälzt sich auf seinem Lager.
"Und alles aufgebraucht?"
"Ja, leider. Es reichte nur für ein paar Joints."
Ich muss lachen. "Ich verstehe. Sag, kannst du mir einen Teil deiner Schulden abzahlen?"
"Im Moment habe ich leider gar kein Geld." Er lehnt sich nach hinten - dann erinnert er sich an seinen knappen Slip und kommt wieder nach vorn. "Ich habe seit mehr als drei Monaten kein Monatsgeld mehr erhalten."
"Warum nicht?"
"Keine Ahnung. Ich krieg auch keine Post mehr von zuhause."
"Glaubst du, dies hier könnte die Antwort sein?" Ich zeige auf das Telegramm, das er noch immer ungeöffnet in der Hand hält.
Zweifelnd betrachtet er es, dann meint er: "Ich weiss nicht."
"Dein Alter weiss, dass du nicht mehr studierst?"
"Ich nehme es an."
"Sind deine College-Gebühren bezahlt?"
"Ich glaube kaum."
"Wie willst du dann deine Schulden zurückzahlen?"
"Ich kann arbeiten." Ein schüchterner Vorschlag. Ich kann ein Schmunzeln kaum unterdrücken.
  "Zum Beispiel in der Weizenernte," fügt er hinzu, "die nehmen immer Studenten."
"Dafür ist die Anmeldefrist bereits abgelaufen."
"Ach ja?" Er spielt den Niedergeschlagenen. "Wann denn?"
"Ende Trimesterferien."
"Das wusste ich nicht."
Francis schlägt die Augen auf und schaut zu mir hoch. Meine Stiefel, die ich speziell für den Anlass angezogen habe, sind keine zehn Zentimeter von seinem Kopf entfernt.
"Wann reist du denn ab?" fragt Hassan.
"Sobald ich das Geld habe."
"Ich meine, ich könnte versuchen, einen Kredit aufzunehmen."
"Den Rat geb ich dir."
Francis richtet sich auf seinem Wolldeckenlager auf. Er schaut uns beide wie fassungslos an, dann sagt er mit schlafbelegter Stimme, zu Hassan gewandt: "Du solltest dich vielleicht ans Auswärtige Amt wenden. Die kümmern sich doch für gewöhnlich um Überseestudenten."
Hassan beantwortet den absurden Vorschlag mit einem vagen 'Ja' und spielt wieder den niedergeschlagenen Ich-weiss-ich-bin-ein-Tunichtgut.
Das wär's dann wohl! Das Geld spielt schon eh keine Rolle. Ich sag noch ein überflüssiges 'Adieu' - dem ein noch überflüssigeres 'Ja, auf Wiedersehen'
aus muffiger Luft folgt - dabei bin ich schon draussen, an der frischen Luft - Luft, Luft! tief einatmen, das ist der Frühling - Freiheit - tief einatmen!
Ha, welche Brut! Über vier Monate hatte er sich bei mir eingenistet und nicht einmal seinen Anteil an der Miete bezahlt - Gott weiss, warum ich ihn überhaupt einliess. Vielleicht hatte mich seine fröhliche Liederlichkeit fasziniert.
Jetzt nimmt er Rauschgift. Nur geht's in dieser Richtung nicht weiter. Da gerät man rasch auf die Schattenseite des Geschäfts, ins dunkle Gestrüpp von Schiebern und Betrügern - nicht wie hier, wo hier alles klar ist und hell  - oh! der Himmel, die warme Sonne, das Vogelgezwitscher - und das Gras, das zu meinen Füssen spriesst - da kann ich mich umschauen und sorglos einhergehen und denken, woran ich will - sogar an meine Mäuse daheim, oder an den Portwein, den ich eingekauft habe...
Wie es meinen Mäusen wohl geht? Ich hoffe, sie sind hungrig. Streute ihnen eine Menge Futter heute Mittag, gutes, nahrhaftes Futter. Dafür habe ich im Laden vier Dollar fünfundsechzig bezahlt.
Wirklich tolles Wetter heute! Soll ich einen kleinen Spaziergang unternehmen? Oder soll ich direkt heimgehen und den Yalumba-Port probieren? Briefe schreiben sollte ich auch noch irgendwann...
Vielleicht hätte ich das Telegramm doch besser gelesen! Jetzt weiss ich nicht einmal, was sich zwischen Vater und Sohn tut!
"Du bist die Schande der Familie! Böser Bub! All unsere Hoffnungen sind zunichte! Deine Mutter schämt sich dermassen! Schreiend rennt sie auf die Strasse und rauft sich das Haar! Du hast uns betrogen! Du hast dich von uns losgesagt! Du gehörst nicht mehr zu uns!"
Ja, so etwa wird es stehen: Böser, böser Bub!
 

*
 

Daheim

Meine Mäuse begehen den Fehler, dass sie zu wählerisch sind. Statt sich an ihre einfache Mehlkost zu halten, finden sie es angebracht, ihr Menü mit zusätzlichen Leckerbissen aufzuwerten. Fresst nur, Mäuse! Wohl bekomm's!
Fein säuberlich habe ich die Körner auf einer alten Zeitung verteilt und diese zwischen das Mauseloch und den Mehlsack gelegt - sie können es gar nicht verfehlen.
Und es scheint ihnen zu munden. Wie ich mich vorhin kurz überzeugte, haben sie sich meinen Körnerberg schon fast zur Hälfte einverleibt. Zur Belohnung und weiteren Aufmunterung setzte ich ihnen nochmals eine großzügig bemessene Ration aus; es reut mich nicht.
Die Alte (ich sage: 'die Alte'; dabei weiss ich nicht einmal, ob es dieselbe ist wie jene von heute Morgen, die ich mit ihren beiden Jungs beim Naschen überraschte: sie sehen sich alle so ähnlich!) - die Alte, sage ich, wollte gar nicht so richtig davonhuschen, als ich die Schranktür öffnete. Sie hüpfte unbeholfen auf das Loch zu unter der Abwasserröhre und schaute sich nach jedem Hupf nach mir um. Entweder war sie zu faul oder zu habgierig - oder das Gift tat bereits seine Wirkung. Vielleicht war ich ihr auch einfach sympathisch: ich bin eine vertrauenerweckende Person.
Wahrscheinlich war es das Gift. Es muss eine lähmende Wirkung besitzen. Zuerst verlangsamen sich die Körperbewegungen, dann die Gehirnaktivitäten, und schliesslich kommt das ganze System zum Erliegen.
So muss das sein: progressiv und systematisch.
 
 
 
 

17.
 

Dienstag, 15. September

Bin ich ein Mann? Kann ich Respekt erwarten, wenn ich mich selbst verrate? Mit welchem Recht liess ich gestern den Hund laufen?
Feige Memme! Zog sich die Stiefel an - nur um schneller zu rennen!
Habe ich denn nicht die Pflicht, als Mann, als Bürger und Mitmensch, die Schulden einzutreiben - oder den Kerl zumindest spitalreif zu schlagen für den Betrag, den er mir schuldet? Eigene Interessen dürfen da keine Rolle spielen.
Das Schlimme ist: ich empfinde nicht einmal Scham. Nur etwas Traurigkeit - weil es nicht anders ging. Und von der Traurigkeit leben wir ja schliesslich, durch sie beziehen wir die Kraft - gegen sie zu kämpfen opfern wir das Leben.
Und doch: welch abscheulicher Verrat! Noch in der Verleugnung die Farce; als Rache aufgezogen, in Stiefeln ausstaffiert - zuletzt doch nur wieder die Bestätigung der urbekannten Impotenz!
 

*

Verdammtes Mäusepack! Jetzt bemächtigen sie sich sogar meines Wohnschlafzimmers! Eben erhaschte ich den flüchtigen Schatten eines Nagers, als ich kurz von der Schreibmaschine aufblickte. Hinter dem Grammophon verschwand er.
Schön, gehen wir auf Mäusejagd! Jetzt wird's lustig!
Trari-trara! - nein, das ist die Post. Ich brauche einen Besen, einen Hexenbesen. Voilà! Und dann die Küchentür zu, um dem Feind den Rückzug abzuschneiden - : so, es kann losgehen!
Wumpedibum, der Stiel ist krumm, die Hexe mag dich - ZACK!
Hoppla, meine Schallplatten! Aber der Feind ist erspäht, er ist zur Küchentür geflüchtet - dort kommst du nicht durch, Freundchen! - ZACK! - unter den Kleiderschrank - SCHWUPS! - schon lange nicht mehr gefegt - SCHWUPS!
Mäuse haben schwache Lungen. Schon hält mein Freund das Tempo nicht mehr durch. Unser sportliches Turnier beschränkt sich, nach ein paar kurzen Ausfällen unter das Sofa, nurmehr auf die Laufbahn zwischen Küchentür und Kleiderschrank - und da bin ich mit dem Besen eindeutig im Vorteil - : SCHWUPS!
Lausige Sportler, Mäuse. Der arme Kerl da ist bereits dermassen ausser Atem, dass er kaum mehr rennen mag.
Du hast 'ne schwache Lunge, Freundchen! Das kommt vom Leben in den Löchern! Du solltest mehr an die frische Luft!
Niedlich, der kleine Kerl, wie er dort pustend in der Ecke steht und die Pfötchen schützend vor die pochende Brust hält. Muss einer der Söhne sein - ZACK! - ah, Kollaps.
Ah, nein, da! Keine Schweinereien, bitte! Der Schmutzfink hat Blut ergossen - pfui Teufel!
Hein, dich haben wir erwischt, Bengel! Kein Mehl mehr für dich, was? - Sieht ziemlich unschuldig aus, wie er da mit seinem rosa Schwänzchen ausgestreckt am Boden liegt. Lass dich begucken, Wicht!
Federleicht baumelt er an seinem Schwanz. Seine Zähne ähneln denen von Martin - nur sind die seinen hier blutverschmiert, während jene von Martin nikotinvergilbt waren. Soll ich ihm mit seinem eigenen Blut ein rotes Kreuz aufs weisse Fell malen? Oder wäre das zu makaber?
Hörst du, Bengel? Ich bin fertig mit dir! Und jetzt wandern wir ab in den Kehrichteimer - Moksha sei mit dir!
Verdammte Schweinerei, das! Dabei sollte ich Briefe schreiben!
 

*

Es war ein Fehler, Hassan zu besuchen! Der Kerl beschäftigt mich zu sehr! Ich hätte das Telegramm zerreissen und wegwerfen sollen!
Ein trübes Kapitel: meine Schuld! Wie jenes mit Fanny! Und mit Sarah! Und James! Und vorher und überhaupt alles - alles meine Schuld!
Man sollte die Vergangenheit auswischen können. Auswischen und auslöschen und von vorne beginnen. Zumindest der trüberen Kapitel sollte man sich entledigen dürfen. In einem Tagebuch kann man das: da kann man beliebige Kapitel auslassen.
Meine Mäuse lasse ich nicht aus. Aus denen mache ich Literatur. Etwas prosaisch zwar, ihr Eingehen in die Literatur - aber so bin ich sie nun los.
Und mit Hassan werde ich ebenso verfahren. Ich werde ihn packen und auf eine Feder aufspiessen - und dann tauche ich ihn in ein Tintenfass, den schwarzen Teufel, und schmiere ihn auf Blatt und Bogen - und dann mag er den Rest des Lebens zwischen Buchdeckeln geklemmt verzappeln!
Erst dann bin ich frei, erst dann beginnt das Leben.
Ein Datum muss ich fixieren. Ich muss mich festlegen auf den Zeitpunkt meines Abgangs.
 

*
 

So, diesmal klappte es, alles steht wieder zum besten! Weiss Gott, was kürzlich los war?!
"Prost!"
"Prosit!" Wir sitzen im Weinhaus.
Ich schrieb gerade Briefe - da kam sie, direkt von der Uni, ungeachtet ihrer vormaligen Drohung, nie mehr wiederzukommen. Und dann tratschte sie über die Uni, als ob mich das noch interessierte - erzählte spöttisch, Nwafo hätte sich nach mir erkundigt, so als müsste sie über mich Bescheid wissen - und ein anderer habe mit Ahmed über uns geplaudert, so als ob ihn das etwas anginge -
"Hast du zu Mittag gegessen?"
"Nein, ich sagte dir doch, ich kam direkt von der letzten Vorlesung."
"Hier kriegt man schon was zu essen."
"Ich hab aber eher Lust auf was anderes." Augenzwinkern ihrerseits.
"Ich brauche einen Brandy."
"Du brauchst was Starkes, hein?"
"Natürlich!" Augenzwinkern meinerseits.
Ich war im Bademantel, als sie kam - und sie setzte sich auf meinen Schoss und begann, mit meinen Brusthaaren zu spielen und daran zu zupfen - und ich sagte, ich würde ihr eine Tasse Kaffee machen, aber sie wollte nicht und verstellte eine Schachfigur auf dem Spielbrett, obschon ich Nwafo gestern schon schachmatt gesetzt hatte - und ich machte ebenfalls einen Zug, und dann sie wieder - und als sie merkte, dass sie noch immer schachmatt war, begann sie an meinen Oberschenkelhaaren zu zupfen - und so beschloss ich: also dann!
"Fühlst du dich in Ordnung?"
"Sehr. Der Brandy hilft."
"Keine trüben Gedanken diesmal?"
"Gar nicht. Höchstens wegen Ahmed."
"Vergiss ihn!"
Sie warnte mich noch, als ich in der Küche die Tür nach aussen verriegelte. Aber heute war es mir egal. Und dann schmusten und knutschten wir auf dem Sofa und dann auf dem Bett - und sie sagte, sie müsse nun gehen, aber ich hörte gar nicht erst hin sondern begann sie auszuziehen - und nach dem ersten Mal versuchte ich ihr zu erklären, dass das Bewusstsein über die Theatralik des eigenen Handelns einen manchmal völlig lähme - aber sie wollte überhaupt nichts darüber wissen sondern wollte nur immer wieder -
"Hier ist es ganz nett."
"Ja."
"Kommst du noch immer jeden Tag hierher?"
"So ziemlich."
"Und verführst alle Serviertöchter, was?"
Zuletzt lagen wir erschöpft nebeneinander auf dem Bett. Durch das Fenster schien eine milde Frühlingssonne. Sie tauchte unsere Körper in ihre goldenen Strahlen, und wir genossen es, nebeneinander auf dem sonnendurchtränkten Bett zu liegen und uns aneinander zu schmiegen und die Hitze des anderen Körpers zu fühlen.
"Bereit für eine zweite Runde?"
"Wann immer du willst!"
Ich brachte sie an einen der hinteren Bartische - man fühlt sich vertrauter hier hinten. Rose warf uns einen argwöhnischen Blick zu, als wir das Weinhaus betraten - wahrscheinlich ist sie eifersüchtig. Ich werde sie mir mal vorknöpfen; ich glaube, sie erwartet das von mir.
"Gehen wir?"
"Hmhm."
 

*

Leben ist eine Frage der Leistung, der sportlichen Ausdauer. Da spiele ich immer noch mit.
Muss unbedingt darauf achten, sportlich fit zu bleiben.
 
 
 
 
 

18.
 

Mittwoch, 16. September

Ismael fragt nach dem Zimmer. Die Schwester zeigt es uns.
Chapong liegt auf dem hintersten Bett. Er schläft. Dabei ist er voll angekleidet.
"Sollen wir ihn wecken?"
Die Frage selbst weckt ihn. Er dreht sich um und schaut uns aus wässrigen Augen an.
"Oh, hallo!" Er grinst schwach zu uns rüber. "Woher wisst ihr, dass ich hier bin?"
"Reiner Zufall." Wir treten näher. "Eigentlich wollten wir jemand anderes besuchen - da sahen wir dich hier auf dem Bett liegen."
"Blödsinn!" Chapong lacht und richtet sich auf.
Man sieht es ihm an, dass er krank ist.
"Bitte setzt euch!" fordert er uns auf.
Ismael setzt sich zu ihm aufs Bett. Ich gehe ans Bettende.
"So, hier hältst du dich also versteckt, was?"
"Ja."
"Seit wann denn?"
"Seit einer Woche etwa." Er versucht sich zu erinnern. "Ich kam an einem - Mittwoch."
"Hübsch hast du es hier. Bist du allein?"
"Im ersten Bett ist noch jemand. Ich weiss nicht, wo er sich gerade aufhält."
"Ein Australier?"
"Nein, ein Asiate. Er studiert am WAIT."
"Kommst du gut aus mit ihm?"
"Ja."
Chapong offeriert uns Orangen. Er weiss nicht, wie lange er noch hierbleiben wird. Er kam auf Anraten seines siamesischen Freundes, und Michael brachte ihn im Auto her. Er will uns nicht sagen, was los war mit ihm. Wir wissen nur, dass er sich deprimiert fühlte und dass er nahe an einem Nervenzusammenbruch stand. Seine Behandlung besteht offenbar in der medikamentösen körperlichen Erschöpfung - mit dem Ziel, ihn anschliessend mittels kleiner Häppchen Selbstsicherheit wieder aufzupäppeln. Allem Anschein nach befindet er sich immer noch in der Erschöpfungsphase: er sieht alles andere als entspannt aus - eher verängstigt. Seine Bewegungen sind ruckartig und unkontrolliert, seine Gedanken sprunghaft.
"Was treibst du denn den ganzen Tag?"
"Nichts." Er lacht verlegen. "Schlafen."
"Geben sie dir nichts zu tun?"
"Manchmal spiele ich mit den Kindern."
"Die hier ebenfalls in Behandlung sind?"
"Ja."
Er will uns eine Zeichnung zeigen, die er gestern angefertigt hat. Er erhebt sich von seinem Bett und fährt sich mit der Hand durchs Haar, ohne dort allerdings Ordnung zu schaffen. Sein Gesicht sieht wächsern aus.
Wir folgen ihm in den Gesellschaftsraum. An der Wand hängen Kinderzeichnungen, die alle dasselbe Sujet darstellen: Wasser und Himmel und mittendrin ein Schiff.
Chapong will, dass wir seine Zeichnung erraten. Ich tippe zuerst auf eine falsche. Dann tippt Ismael auf zwei weitere falsche. Chapong verrät uns die richtige: ein abstrakter Dampfer in Braun, in einem Meer in Blau, unter grünen Wolken - mit einer riesigen gelben Sonne darüber.
"Weshalb hast du die Wolken grün gemalt?"
"Ich dachte, es mache sich besser - wegen des blauen Meeres." Er lächelt geheimnisvoll und weist mit beiden Händen auf bestimmte Stellen in seiner Zeichnung, um Kontraste anzudeuten. Wir wissen nicht, ob er nur Schabernack treibt und uns zum Narren hält.
Er bittet Ismael um ein Pingpongspiel. Der Tisch steht in einem anliegenden Zimmer. Ismael bemüht sich, den Ball möglichst sanft und geradlinig über das Netz zu befördern, aber Chapong erwischt ihn nicht. Die beiden spielen ein paar Minuten, ohne dass sich das Spiel verbessert. Entweder erwischt Chapong den Ball nicht, oder er schlägt ihn ziellos irgendwohin. Ich habe mit ihm schon interessante Partien gespielt.
"Darfst du eigentlich das Spital verlassen?"
"Ja, aber nur zwischen den Mahlzeiten. Und um sechs muss ich im Zimmer sein. Wenn ich länger ausbleiben will, muss ich um Erlaubnis bitten."
"Hast du Lust, etwas auszugehen?"
"Ja, schon. Wohin?"
"Wir können auf eine Spritztour gehen und dann zu mir heim."
"Schön. Aber um sechs muss ich wieder hier sein."
"Keine Sorge, wir bringen dich rechtzeitig zurück."
Chapong geht sich das Haar kämmen - mit einem Kamm diesmal. Er sieht schrecklich ungesund aus. Etwas frische Luft und körperliche Aktivität werden ihm guttun.
Draussen herrscht Frühling: klarer Himmel, frische, fruchtbare Luft. Wir steigen ins Auto.
Ismael hatte durch Michael erfahren, wo sich Chapong aufhält. Es sollte ein Geheimnis bleiben - aber schliesslich zählen wir zu seinen besten Freunden, sodass sich Michael nicht dafür hielt, uns anzulügen.
Wir fahren zum Kings-Park hinauf, wo wir vor dem Eingang zum Botanischen Garten parken. Von hier aus sieht man auf den tiefblauen, kristallklaren See hinunter. Er sieht aus wie ein hymnisches Abbild des Himmels über ihm - wie ein Symbol des immensen Äthers.
Ismael geht mit Chapong voraus, ich mit einer Zigarette hinterher. Es ist der erste Tag nach dem langen Regen, da ich meine Sonnenbrille aufsetze. Durch die Sonnenbrille betrachtet sieht die Welt viel farbiger aus: der Himmel ist blauer, die Bäume grüner - Gelb und Rot leuchten intensiver - sogar Chapongs wächsernes Gesicht sieht gesünder aus.
Überall blüht es: leuchtende, üppig blühende Blumen in der Sonne des Wildblumenstaates Australiens, farbiger betrachtet durch eine dunkle Sonnenbrille: 'Hibiscus', in mediterraner Blüte. 'Agave variagata', mit Dornen. Ich bin froh um meine Sonnenbrille.
Krankheit ist eine Abwehrreaktion des Körpers gegen einen Krankheitserreger. Nach durchgestandener Krankheit ist der Krankheitserreger annihiliert - das heisst: Krankheit ist gleich minus Krankheitserreger; oder: Krankheit plus Krankheitserreger gleich Null. Null gleich gesund.
Ich sollte einen Arzt konsultieren. Leide seit gestern unter Durchfall.
Bin doch etwas: ein Durchfall.
Chapong ist auch ein Durchfall. Oder vielmehr ein Abgang. Er hat sich abgesetzt und einem ärztlichen Bulletin verschrieben. Seine Gegenwart erbaut mich. An seiner Krankheit misst sich meine relative Gesundheit.
Totale Gesundheit besteht nur in einem Zustand der Immobilität: wenn sich nichts abnützt - somit innerhalb einer minimalen Zeitspanne t.
Wenn sich t gleich Null nähert, dann nähert sich relative Gesundheit gleich totale Gesundheit. Da t abhängig von 1 über v, folgt: totale Gesundheit besteht nur bei unendlich grosser Geschwindigkeit.
Ich werde auf Reisen gehen. Meinem Durchfall zuliebe. Und ich werde möglichst rasch durch Südostasien reisen: v abhängig s.
  Wenn: v sich Unendlich nähert, dann gilt: s nähert sich Unendlich, oder: Gesundheit herrscht, wenn man möglichst rasch eine möglichst grosse Strecke zurücklegt - im Idealfall: wenn man gleichzeitig überall ist.
Ich liebe die philosophierende Mathematik: sie erschliesst neue Welten.
 

Chapong beklagt sich über Müdigkeit. Er ist es nicht mehr gewohnt, sich so lange auf den Beinen zu halten. Wir gehen zum Auto zurück und fahren zu mir nach Hause.
 

*


 

"Kaffee, Chapong?"
"Ja - das heisst, nein: der Arzt hat mir Kaffee verboten."
"Schnaps? Sherry? Port? Rum?"
"Hast du Limonade?"
"Nein."
Ich schicke ihn in den Laden hinunter. Ismael stellt die Schachfiguren auf.
"Ich verreise definitiv am 12. November."
"Du hast dich entschieden?"
"Jawohl."
Als Chapong mit seiner Flasche Limonade zurückkommt, spielen wir bereits. Er setzt sich zu uns. Sein Blick verrät Teilnahmslosigkeit.
"Man vermisst dich allgemein, Chapong. Weshalb hast du eigentlich deine Freunde nicht wissen lassen, wo du dich aufhältst?
"Welche Freunde?"
"Mich und Ismael zum Beispiel. Weisst du, Chapong: du solltest dich nicht dermassen gegen deine besten Freunde abkapseln. Schliesslich nehmen sie auch Anteil an deinem Schicksal. Und immerhin wäre es auch weniger langweilig für dich im Spital, wenn dich gelegentlich jemand besucht."
"Ich muss nur immer mit Kindern spielen!"
"Siehst du?"
Ismael gewinnt das Spiel. Chapong möchte, dass wir Michael besuchen: vielleicht lässt sich mit ihm ein Nachtessen organisieren. Wir wollen gerade aufbrechen, da kommt der feiste Miung reingeschneit.
Ich beschliesse, daheimzubleiben und Miung zu unterhalten. Ismael und Chapong verabschieden sich.
"Kaffee, Miung?"
"Ja, gern. Sag, hast du Neuigkeiten von Martin?"
"Nein. Das heisst, doch: er hat mir eine Postkarte geschickt."
"So? Mir hat er keine geschickt, der Gauner!"
"Da siehst du, mein lieber Miung, welcher von uns beiden höher im Kurs steht."
Miung lacht. Er ist ein gutmütiger Kerl. Ich finde es nett, dass er mich trotz Martins Abreise noch besuchen kommt. Er studiert am WAIT - und so unterhalten wir uns über sein Studium am WAIT - dann über Fussball und Pferderennen - und über Gambling - und dann kommt Nwafo.
"Kaffee, Nwafo?"
"Ja, danke."
"Sag mal, was genau hast du gestern mit deiner Frage an Fanny bezweckt, wie es mir gehe?"
"Puh, ist die aber misstrauisch!"
"Ja, und du eher taktlos!"
Natürlich hege ich keinen Groll gegen ihn. Trotzdem muss ich wenigstens auf etwas Verschwiegenheit bestehen, wenn ich ihn schon ins Vertrauen ziehe.
"Ach, da kommt ja unser Freund Chapong wieder. War Michael nicht zu Hause?"
"Doch, aber er hatte keine Zeit."
"Dann tatest du gut daran, hierher zurückzukommen. Und was ist mit dem Nachtessen?"
"Wir gehen um halb acht ins Pagoda."
"Gut. Vergiss nicht, dich im Spital abzumelden. Sonst glauben die noch, du seist ihnen entlaufen."
Nwafo und ich spielen Schach. Chapong und Miung schauen zu. Dazu trinken wir Kaffee; Chapong trinkt Limonade. Wir hören Musik und unterhalten uns. Das ist es, was die Leute bei mir suchen: Abwechslung und Unterhaltung.
 

*
 

Ein Uhr nachts

Mein Tagebuch beginnt mir über den Kopf zu wachsen. Tatsache ist: ich bin gar nicht mehr in der Lage, in einem Tagebuch festzuhalten, was sich alles so ereignet; ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was sich heute Abend noch alles abspielte.
So, wie die Dinge liegen, war der ganze Abend für die Katze: seit einer Stunde versuche ich vergeblich, die verschiedenen Gespräche und Diskussionen zu rekonstruieren, die wir zuerst bei mir zu Hause, dann im Weinhaus und anschliessend im Restaurant noch führten.
Ich hasse Lücken.
Ich sollte einen Sekretär anstellen. Ich brauche jemanden, der für mich Distanz hält, der hinter meinem Stuhl steht und mitschreibt - der alles festhält, was ich sage: meine scharfsinnigen Sprüche, meine Witze, die Nebenbemerkungen, die Kommentare - die ganze Mimik, die Reaktionen, die Stimmung.
Jetzt haben wir eine Situation, in der der ganze Abend praktisch nicht stattgefunden hat. Und eine solche Situation haben wir nicht zum ersten Mal.
Muss mir da über die Konsequenzen klar werden: Vergangenheit ist eine Frage der Auswahl - und des guten Erinnerns.
 
 
 
 
 

19.
 

Donnerstag, 17. September
 

Mit Ng in der Stadt. Will ihm den 'Adler' zeigen. Bin seit bald zwei Jahren nicht mehr hier gewesen.
Hier hatte die Story mit James begonnen. Nun soll das Hotel niedergerissen werden und einer Bank weichen.
Ob die dicke Mary noch bedient? "Du hast den hungrigen Blick" pflegte sie zu sagen. Erst heute weiss ich, was sie meinte - auch wenn ich es damals schon ahnte.
Alles ist wie früher: der Taxistand, die marmorne Treppe, das Messinggeländer links und rechts - nur der Portier fehlt. Ob es noch George ist, der livrierte Zuckerguss?
Dann die düstere Lobby: alles wie früher - nur nicht so prunkvoll, wie ich es in Erinnerung hatte. Der rote Teppich am Boden, das massive Holz, das Messing überall - die Schnitzereien, die Leuchter - alles aus einer anderen Zeit.
Wir gehen die drei Stufen zur Lounge hoch und setzen uns an der Fensterfront an einen Zweiertisch.
"Was trinkst du?"
"Irgend etwas. Ein Bitter Lemon."
"Nimm etwas Stärkeres. Whisky?"
"Du weisst, ich muss heute noch studieren." Er grinst mich unsicher an.
Ng hat kürzlich Albert für Ranthir zwei Kochtöpfe ausgeliehen, die er für sein Gemüse-Curry-Gericht brauchte. Bei der Gelegenheit hat er gehört, dass bei mir noch was zu mieten wäre und hat sich gleich heute Morgen die Wohnung angeschaut. Scheint interessiert zu sein.
Dort drüben hatte James an einem Tisch gesessen und Bier bestellt. Seltsam, wie die Zeit vergeht. Heute fühle ich mich als Tourist.
"Glaubst du, er taugt was?" frage ich Ng, der meinen soeben erstandenen Sprachkurs studiert.
"Der Kurs da? Ja, ich denke schon." Er schiebt sich mit dem rechten Mittelfinger die Hornbrille zurecht. "Aber es gibt natürlich eine Reihe von Wörtern, die im Malaysischen gar nicht existieren."
"Aber im Gespräch würdest du einen Indonesier verstehen?"
"Ja, das meiste schon." Er schlägt sein rechtes Bein über das andere. Ich stelle ihn mir vor, wie er an einem breiten, mit viel Papierkram beladenen Pult sitzt, und wie er durch eine dicke Hornbrille den strengen Blick auf ein eminent wichtiges Dokument richtet. Eine klare Laufbahn ist hier vorgezeichnet.
Der Whisky kommt. "Neun Dollar zwanzig!"
"Wer bedient in der Hausbar?"
"Bitte?"
"Arbeitet Mary noch hier?"
"Welche Mary? Ich arbeite erst seit kurzem hier."
"Sie ist dick und lacht schallend und arbeitet in der Hausbar."
"Ach die, ja."
"Aber jetzt ist sie nicht hier?"
"Nein. Ich glaube, sie hat Zimmerstunde."
Ng kommt aus Kuantan, und er erzählt mir darüber: Eine schnell wachsende Hafenstadt an der Ostküste Malayas, mit viel Potential - vor allem im Hotelbau - liesse sich gut Geld verdienen, meint er, wenn man jetzt einsteigt - denn irgendwo müssten all die Touristen ja übernachten...
Die Nachmittage waren am schlimmsten. Man trödelte herum und hatte nichts zu tun, und der Hotelmanager fluchte und hiess uns Messing polieren und leere Flaschen wegräumen...
...sogar nackt baden - was zum Beispiel an der Westküste nicht erlaubt ist, wegen der vielen Muslims die dort leben. Und auch die Schildkröten kommen nur an die Ostküste - wenngleich natürlich das Einsammeln der Eier, im Gegensatz zum Nacktbaden, streng verboten ist - offiziell zumindest.
Ng schreibt mir seine Heimatadresse auf.
Adieu 'Adler', wir sehen uns nicht wieder!
Werde ihn 'Phönix' nennen.
"Ach, da ist ja der gute alte George! Hallo, George! Wie geht's denn, alter Knabe?"
"Oh, hallo!" Er flötet sein "Öhü!" und sein "Häl-löhüh!" noch immer auf gekonnt zierliche, altenglische Art hervor. In seiner Livrée wirkt er wie der wiederauferstandene Geist einer längst erloschenen Epoche.
"Ich dachte schon, du hättest deinen Dienst quittiert!"
"Nein, warum auch?"
"Dann bis zum bitteren Ende, was?"
Er verwandelt sein bittersüsses, gefrorenes Lächeln in eine gummige Grimasse, die sowohl Zustimmung als auch Verneinung ausdrücken könnte. George in der Rolle des Fähnrichs, der nach verlorener Schlacht immer noch sinnlos herumsteht - wie der Musikant auf dem Schiffsdeck, der seine messingnen Uniformknöpfe poliert, während das Schiff langsam in den kalten Fluten versinkt...
Ng wartet draussen in der glitzernden Sonne. Ich eile hinaus. Plötzlich wimmelt es von Menschen überall. Wahrscheinlich Büroschluss.
Ich verstehe von alledem nichts. Ich werde Fremdsprachen lernen.
 

Die Busfahrt führt dem See entlang. Meine Lieblingsstrecke. Hier draussen beginnt der touristische Teil der Stadt.
 
 
 
 
 

20.
 

Freitag, 18. September  Spätabends

Kunst, Kunst, Kunst: Was verstehen sie denn schon von der Kunst?!
Es war falsch, sich aufzuregen vorhin. Es bringt nichts! Kunst ist sublim - nichts für irdische Kriecher! Weshalb nur wurde ich so wütend?
Wie ironisch das Ganze! Im Film selbst hatte der 'Produzent' noch gefragt: ob der Zuschauer überhaupt versteht? Und siehe da: der Zuschauer hat gar nichts verstanden!
Ein Ehedrama, jawohl! Zwei sich streitende Leute: so verstehen sie das! Und Tom hat recht: der Film wollte eine andere Botschaft vermitteln, und wir sehen sie nicht, so hat der Film eben versagt!
Wie recht er hat! Kunst hat schon immer versagt! Sie beraubt ihren Schöpfer des Lebens, treibt seine Frau in den Tod - und am Schluss bleibt ein Werk, das niemand versteht...
"Oh, wie ich sie verstehe, die Götter!" schwärmte der 'Produzent'. Aber Yussuf und Harriet sind nun mal nicht von der Art, Götter zu verstehen - wozu sich dann streiten? Ich hätte ihre Einladung annehmen und bei ihnen daheim ein Glas Wein trinken sollen - aber ich war so wütend, so enttäuscht darüber, dass sie nicht mehr sahen - : ich wollte und konnte nicht mehr.
Ich beging den Fehler, mich in Diskussionen einzulassen. Die Kunst ist eine Droge - wie die Religion -, und darüber spricht man besser nicht.
Sie sind ja sonst so nett: Tom mit seinem blechernen Pferdegewieher, der besser Auto fährt als diskutiert - und Yussuf und Harriet: Harriet, die mir die Strandhütte ihrer Eltern versprochen hat, und Yussuf, der mich morgen ins Konzert einlädt.
Es ist falsch, sich mit ihnen über einen Blödsinn zu streiten, der niemanden weiterbringt.
 

*

Wie eindrucksvoll sie dastanden: Masken der Vergangenheit, Funktionen des ihnen überschriebenen Symbols. So lebten sie im Kampf der Menschen als ihr Schicksal - unverwundbar und unsterblich, voller Zorn und voller Liebe - sie selbst Opfer einer wahnsinnigen Irrfahrt.
Warum Odysseus nicht ans Ziel gelangte?
Er wollte eben nicht!
Sondern er unternahm eine touristische Rundfahrt und besuchte mediterrane "Pflichtstücke", die ihm eher zusagten als die eheliche Pflicht. Und wie per Zufall führte der Weg in die Kunst, weg vom "Zurück" in die Zukunft der Unsterblichkeit. So bitter einfach ist die Geschichte - wer soll es wagen, nicht zu träumen?
Alle sollen sie es wagen!
Und doch: die Welt der Kunst ist beschissen. So oder so führt sie erst in den Tod - und wenn man sich ihr verschliesst, ist es zu spät: die Frau ist weg, mit dem Produzenten im Bett und mit dem Auto verschwunden - er als Chauffeur, als Verführer, als entführender Begleiter - früher nannte man das "Freier": gnädige Frau, ich bin so frei...
Ich folge Odysseus. Es führt kein Weg zurück. Wohin man geht, es führt kein Weg zurück.
Ich will in Ruhe herumreisen und touristischen Einblick in menschliches Tun nehmen - ich will nicht zurück. Ich will nicht kämpfen und nicht töten und nicht morden - ich will weg, weg vom Leben, weg von der Vergangenheit, von der trüben Erinnerung - ich will nichts als in Ruhe gelassen werden und friedlich vor mich hinleben dürfen - das ist nicht viel verlangt; und die Kosten bestreite ich selber.

*

Wie herrlich ihr Antlitz: zeitlos und unzeitlich, Zeugin einer anderen Welt! Wie immer sich die Welt verändert: sie ändert sich nicht. Mit blinden Augen erschaut sie das Schicksal, das ihr die Menschheit beschied.
"Nicht Götter haben die Menschen geschaffen, sondern Menschen haben die Götter erschaffen!"
Ha! und heute wissen sie nicht mehr darum. Weder erkennen sie sie noch richten sie sich nach ihnen - sondern fahren rote Coupés und hübsche Frauen spazieren und enden unter schnittigen Lastwagen - dem eigenen Werk, den innigsten Werten werden sie untreu und verfolgen ein neues Ziel, mit rudimentärsten Vorstellungen, worin dieses besteht - nein, das kann der Weg nicht sein!
Niemand darf so blind durchs Leben irren!
Und dennoch jagen sie, jagen wir blind durch die Gegend und merken nicht, dass wir stillstehen, uns im Kreis drehen und keinen Jota, nicht die Idee eines Gedankenstrichs vorwärtskommen! Insofern liegt Gunst in der Blindheit, im stumpfen Hinsein: hierhin und dorthin, vorwärts - dahin!
Zu  streiten lohnt sich nicht. Der Weg ist vorgezeigt, die Route vorgegeben - und wer nicht fähig ist, für sich die eigene Laufbahn vorzuzeigen - na, wie Tom sagt: der hat eben versagt!
Der ist eben nichts wert! Sein Sinn ist nicht sinnig, sein Weg nicht gangbar - sein Ziel unklar, die Route schlecht gewählt - der ganze Zweck seines Unterfangens bleibt unverständlich.
Den kann man nur bedauern.
 

*

Selig sei, wer seinen Weg kennt.
Selig soll werden, wer da so in der Gegend umherirrt.
Und selig sollen schliesslich auch all diejenigen werden, die nicht wissen, wer sie sind, und was zum Teufel sie in dieser Welt überhaupt TUN.
 
 
 
 
 

21.
 

Samstag, 19. SeptemberDes Nachts
(Zu Übungszwecken: über den heutigen Abend.)
 

*

"Nun, das ist natürlich schwierig," antwortet er verständnisvoll.
"Vor allem," stimme ich ihm bei, "wenn man sie nicht im Land selbst erlernt hat."
"Aber du beherrschst sie schon ganz gut," findet er; scheinbar meint er es aufrichtig.
"Nun ja, ich kenne meine Schwächen."
Mein Gesprächspartner heisst Gerald. Ich unterhalte mich mit ihm, weil wir zufällig auf derselben Matratze sitzen. Er ist Australier und reiste vor zwei Jahren in Europa herum. Jetzt studiert er Wirtschaft an der Uni.
Zu trinken gibt's Rotwein. Tom spielt den Mundschenk. Er gefällt sich in der Rolle.
"Na, komm!" schnödet er die hübsche Beatrice an, die hinter Gerald auf einer zweiten Matratze sitzt. "Wie viele Gläser hast du denn getrunken? Du beleidigst mich, wenn du meinen Wein verschmähst."
Damit beugt er sich selbstsicher zur hübschen Beatrice hinunter und füllt ihr Weinglas auf. Er ist etwas lauthals, Tom, und von einer bäurischen Direktheit im Umgang mit anderen.
"Aber ich wollte doch gar keinen Wein mehr!" jammert die hübsche Beatrice zaghaft, ohne indes damit verhindern zu können, dass ihr Glas jetzt voll ist.
Die launische Harriet ist in guter Stimmung, und das mit Recht: Yussuf hat sie nämlich zuerst mit ins Restaurant genommen (wo sie erst noch alte Kameradinnen traf und sich während des Essens blendend mit verschiedenen Gesprächspartnern unterhielt) und anschliessend ins Konzert - wo sie dann als erste Yussufs Vorschlag nachkam, wir könnten uns doch ganz vorne vor der Bühne auf den Boden setzen statt hinten auf den billigen Sitzplätzen zu verweilen; in der Folge sass sie mit herausfordernd erhobenem Kopf vor uns auf dem Boden und quittierte die nachsichtig lächelnde Zustimmung des Konzertgitarristen souverän mit einem leichten Kopfnicken.
Zunächst war Yussuf nicht gerade erbaut, dass ihm Harriet die Show und den Abend mit Jane stahl. Aber dann besann er sich eines Besseren und machte gute Miene zum bösen Spiel. Immerhin durfte er die Tatsache, dass er es geschafft hatte, gleichzeitig mit Jane und Harriet auszugehen, als Erfolg seiner taktvollen Diplomatie buchen. Gleichsam zur Krönung seines Triumphes lud er uns anschliessend nach dem Konzert alle zu sich nach Hause ein, um uns in bester Laune mit klassischer Musik und australischem Wein zu bewirten.
Eben unterhält er sich mit Anita über die Musik, die wir heute Abend im Konzertsaal hörten.
Anita sucht unter den Schallplatten nach einem bestimmten Albéniz-Stück.
"Da ist sie ja!" ruft sie und hält eine Scheibe hoch. "Jemand hat sie in den falschen Umschlag gesteckt!"
"Und hier ist auch der richtige Umschlag!" verkündet Yussuf. "Eine Johnny Cash Platte steckte drin!"
"Das wirst du gewesen sein," kommentiert Harriet unaufgefordert. "Du weisst, ich höre mir diesen Cash nie an!"
"Dann bin ich es wohl gewesen," sagt Yussuf und schaut schmunzelnd zu Gerald und mir rüber, so als wollte er sagen: Habt ihr das gehört? Also, bitte!
"Spiel doch mal den Cash ab!" schlägt Paul vor. Er ist eben erst gekommen und sitzt neben Tom auf einem Polstersessel.
"Nein doch!" fleht Anita. "Zuerst diesen Albéniz! Das Stück ist so wunderschön - ich bin überzeugt, es wird auch dir gefallen, Paul." Mit dieser hoffnungsvollen Zusicherung geht sie zum Grammo und legt die Scheibe auf.
Paul macht eine abschätzige Bemerkung über Gitarrenmusik - er war nicht mit uns im Konzert heute Abend, sondern kam eher zufällig vorbei, um seinen Freund Tom zu besuchen.
"Siehst du, Paul," spöttelt Jane, die neben mir auf dem Boden sitzt, "heute musst du dich der kultivierten Mehrheit fügen!"
Anita lächelt zustimmend, während sie sich zu Harriet auf die Couch setzt.
Ich hatte Jane meinen Sitz auf der Matratze angeboten - sie war so freundlich gewesen, mich vorher im Auto abzuholen - aber sie zog es vor, kreuzbeinig auf dem Teppich zu sitzen und mir den weicheren Sitzplatz auf der Matratze zu überlassen.
"Jetzt, hört!" ruft Yussuf. "Da kommt es!"
"Diese Legende, von der ihr vorhin spracht?" erkundigt sich die hübsche Beatrice flüsternd bei Gerald.
"Ja, weisst du, die zweite Zugabe, die er spielte," erklärt ihr Gerald, auch er feierlich flüsternd.
Die beiden kamen zusammen ins Konzert. Ich sehe sie heute zum erstenmal. Beatrice spricht nicht viel. Sie hat ihre Beine angezogen und umfasst die Knie mit beiden Armen, den Kopf schräg darüber gesenkt, während sie der Musik lauscht. Zweifelsohne ist sie hübsch. Hübscher als Jane oder Anita. Hübsch und ruhig und beinahe andächtig, etwas scheu auch: unverdorben. Hoffentlich heiratet sie bald.
Anita ist auch scheu. Aber sie ist lauter als Beatrice und manchmal sogar etwas vorwitzig. Leider fühle ich überhaupt nichts mehr für sie; sie ist eine Figur, wie es sie eben so gibt: ein Gesicht, das man schnell vergisst. Auch sie erweckt nicht den Eindruck, als käme sie ohne mich nicht zurecht.
Alle scheinen sie sich von ihrer Schulzeit her zu kennen. Im Restaurant hörte ich zu, wie sie sich angeregt über gemeinsame Bekannte unterhielten, von denen ich noch nie gehört hatte; und auch während des Konzerts konnte ich sie mit Wohlwollen beobachten, wie sie gewandt miteinander sprachen und sich gegenseitig verstanden.
Die Musik der Gitarre passt ausgezeichnet zu dieser Gesellschaft. Eine Spur irreal, sanft und zum Teil blumig verschleiert, zart und rein - sie genügt sich selbst, als wäre das Zuhören überflüssig.
Man trinkt weiter - Wein und Kaffee, bei Kerzenlicht - man liegt und sitzt herum, auf Matratzen, Sesseln, auf dem Sofa - man schwatzt und trinkt, ist unter Freunden - die Luft wird heiss, es ist einem wohl - Yussuf hält meinen wandernden Blick auf. Er schmunzelt. "Du bist heute so ruhig, Renz?"
"Wirklich?"
"Ja. Sonst stehst du immer im Zentrum und diskutierst über die wildesten Themen - was ist heute los mit dir?"
"Er hat keinen Wein mehr!" ruft Anita, etwas übereifert.
"Was, keinen Wein mehr?" ruft Tom und springt auf die Beine. "Das darf doch nicht wahr sein! Lang mir dein Glas, Renz!"
"Füll es ihm bis zum Rand," rät Jane in überflüssiger Aufregung.
"Rex braucht etwas, um seine Kehle zu ölen," bemerkt Harriet irgendwie abschätzig. Sie nennt mich seit jeher Rex.
"Keine Angst, Harriet," gebe ich zurück, "von deinem Kaffee werden wir später schon noch kosten."
"Du wirst ja sehen, ob es dann noch welchen hat!" erwidert sie missmutig; als sie vorhin mit einer dampfenden Kaffeekanne in der Hand in die Runde gefragt hatte, bewarb sich einzig Beatrice um eine Tasse.
"Und wenn nicht, dann braut uns die liebe Harriet eben extra noch welchen!"
"Mir kannst du auch gleich nachschenken!" ruft Paul und reicht Tom sein leeres Glas herüber, bevor sich dieser wieder setzt.
"Womit unterhältst du uns heute," mokiert sich Anita; "mit Poesie?" Sie will offenbar andeuten, auf welcher Seite sie im Zweifelsfall stehen würde.
"Schreibst du Gedichte?" fragt Gerald prompt. Auch die hübsche Beatrice schaut mit ihren bezaubernden Augen herüber.
"Manchmal schon."
"Worüber denn?"
"Das war doch nur ein Witz!"
"Frag ihn über den Frühling," schlägt Jane vor - wir hatten uns vorhin im Auto während der Fahrt ins Restaurant darüber unterhalten.
"Ja, bald haben wir schon wieder Frühling," lenke ich ab. "Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht. Dann können wir wieder draussen sitzen und picknicken."
"Da gehen wir wieder an den Strand!" wirft Paul wie gerufen dazwischen. "Weisst du noch, Tom, letzten Sommer? Das war irre mit dem Surfen! Ich kann es kaum erwarten!"
"Ja, das wird euch guttun, dann gibt es hier wieder etwas Ruhe," meint Harriet. Sie spielt sich auf wie eine gehetzte Mutter.
Ich verstehe Yussuf, wenn er das Bedürfnis verspürt, sich gelegentlich mit jüngeren Mentalitäten zu erfrischen. Fragt sich nur, wie lange Harriet sich das bieten lässt. Es war eine Zweckehe gewesen damals, die es Yussuf ermöglichte, unbehelligt im Land zu bleiben. Auf diese Idee war Martin nicht gekommen.
"So wie jetzt ist es auch gemütlich," meint Yussuf zufrieden. "Wartet, ich hole noch ein paar Kerzen - das gibt eine bessere Stimmung. Und dann können wir auch das elektrische Licht ausknipsen."
"Au fein!" ruft Anita aus. Sie liebt anonyme Romantik, wo nichts passiert.
"Aber passt auf, dass ihr die Gläser nicht umkippt!" warnt Harriet im plötzlich verdunkelten Raum.
"Was studierst du eigentlich, Beatrice?" frage ich Beatrice.
"Geschichte und Psychologie," antwortet sie freimütig.
"Oh," fährt Paul dazwischen, "dann müssen wir also aufpassen?"
"Warum meinst du?"
"Du weisst schon, diese Psychologen: die glauben doch immer, unbedingt etwas herausfinden zu müssen."
"Psychologie ist eine ganz normale Wissenschaft wie jede andere auch," bedeutet ihm Gerold, mit einem Anflug von Gereiztheit in der Stimme.
"Ich finde sie jedenfalls interessant," ergänzt Beatrice schlicht, "und ich studiere sie nicht, um bei anderen Menschen etwas herauszufinden. Schliesslich hat jeder Mensch das Recht, so zu sein, wie er ist."
Und so wären wir, wie natürlich, bei einem brisanten interessanten Thema angelangt; das wäre normalerweise mein Einstieg. Nur dass ich heute keine Lust verspüre: die Gesellschaft ist zu vollständig, es bedarf meiner Anwesenheit nicht, um das Thema weiterzuverfolgen.
Zudem bin ich müde.
Jane bietet mir an, mich nach Hause zu fahren. Aber ich ziehe es vor, zu Fuss zu gehen und mir in der kühlen Nachtluft den leicht schwindligen Kopf durchzuspülen.
Frühling ist nichts für mich!

*
 

Ich gleiche dem Blatt, das im Herbst nicht vom Baum fiel.
 

Möge ein Sturm kommen...
(... und das Blatt hinwegfegen!)
 

*

(So, ich glaube, das war insgesamt nicht schlecht.)

Damit ist es beinahe fünf Uhr Sonntag morgens geworden.
 
 
 
 
 

22.
 

Sonntag, 20. September

(Brief an Walter: bedanke mich für das Geld, benötige Lehrstelle erst im "europäischen" Frühling. - Fanny kam kurz vorbei; intus.)
(Nochmals mit Ng in der Stadt; übernimmt nun definitiv die Wohnung: ab Dienstag, mit Einrichtung und allem. In der Stadt waren die Läden geschlossen; Kunststück, an einem Sonntag. Gingen ins Kino.)
(Harriet deponierte in der Zwischenzeit in meiner Wohnung den Schlüssel zur Strandhütte. Kommt mir wirklich sehr gelegen.)
(Weigere mich, den Sinn nochmals zu hinterfragen; lästig nur die Fragen der anderen.)
 

*

(Muss schon wieder, heute zum drittenmal - ah! äääng! - und nicht mal richtig Zeit hat man, sich zu setzen!)
(Habe wohl vom Rattengift geschluckt; oder bin einfach nervös - äääng!! Und stinken tut's!)
(Dabei habe ich heute noch gar nichts gegessen!? Muss unbedingt Martin in Kuala Lumpur besuchen - damit ich endlich wieder mal was Anständiges zwischen die Zähne kriege!)
(Wie war das noch mit der Verdauung und der Literatur? Da war doch ein Zusammenhang! Hab schon alles wieder vergessen. Muss in meinen Blättern nachschauen.)
("Was reinkommt, muss auch wieder raus" - oder so ähnlich.)
 

*
 
 

Der Mensch ist das Resultat seiner Handlungen. Und so wie der Mensch das Resultat seiner Handlungen ist, ist die Menschheit das Resultat ihrer Geschichte.
Das ist Philosophie. Und der Schreiber kommentiert: Wohl dem, der eine Vergangenheit hat - denn diese gibt ihm zu denken!
Und dann geht er in sich und denkt: Wozu genau führe ich eigentlich dieses Tagebuch? Um mich an meine Vergangenheit zu klammern? Wie kam ich überhaupt dazu???
Was geschrieben ist, IST - schwarz auf weiss; und was IST, ergibt SINN; und wenn ich mein Leben aufschreibe, ergibt auch dieses SINN - und es ist gut, ein SINNVOLLES Leben zu besitzen - so hat man etwas HANDFESTES, das man in die NACHWELT hinüberretten kann - es ist das KIND, welches WEITERLEBT und dafür BEWEIS ist, dass man EXISTIERT hat!
So denkt er.
Und nachdem er solches gedacht hat, setzt er sich hin und schreibt nieder: Es ist die Verpflichtung des Schriftstellers, nur die schönen Seiten seines Lebens aufzuschreiben, damit das Leben einen schönen Sinn ergibt. Und er hat dafür zu sorgen, dass die anderen Menschen, mit denen er in Kontakt kommt, ihrerseits ein schönes Leben führen, damit es sinngemäss in sein Buch passt!
Und nachdem er das erste Blatt weggeworfen hat, schreibt er weiter: Indem wir schreiben, tragen wir zur Geschichte bei! Es geht nicht an, dass wir in den Tag hineinleben, ohne ein Zeugnis unseres Daseins zu hinterlassen! Wir leben - nicht um zu vergessen, sondern um erinnert zu werden! Wir wollen in rühmlicher Erinnerung gehalten werden - als jemand, der existiert und insgesamt zur Geschichte beigetragen hat!
Und nachdem er solches geschrieben hat, nimmt er tief Atem und spricht: "Das Ziel der Menschheit soll es sein, in der Geschichte zu vereinen, was Gott vertrieb! Machen wir die Welt uns zu eigen, gestalten wir sie nach unserem Plan, machen wir ein Paradies aus ihr! Uns sei die Welt, sei die Menschheit vereint in ihrer Geschichte - sei sie sich selber Gott!"
So spricht er - und führt in Verzückung fort: "Mut, oh ihr gewundenen Därme, Mut, ihr knickfingrigen Saugnäpfe eigner Verwesung, verdaut eure Kost, entleert eure Höhlen und weht! oh ihr Winde, ihr trockenen Lüfte, hinaus! - Raus, fette Kröte, geifernder Zahn, hinweg! - ... und neblig zieht Dämon von dannen!"
So also sein Wahn!
Und nachdem er sich so ergeben hat, fällt er in sich zusammen und murmelt: "Es werde Licht!"
Und siehe: es wird Licht!
Und er nimmt das Licht und löscht es aus, auf dass er schlafen möge.
Damit ist es einmal mehr Morgen geworden.
 

*
 

(Habe kurz durchgelesen, was da oben steht. Der Kerl spinnt natürlich völlig, der das geschrieben hat.)
(Werde mein Projekt "Phönix" nennen - das war schon immer ein guter Name. Und das Projekt wird erst mal zurückgestellt, bis ich mehr Übung habe.)
(Ismael hat übrigens geäussert, dass er fest entschlossen sei, Trixy zu heiraten - aber erst nachdem er das Studium abgeschlossen und einen Job gefunden hat. Habe ihn beglückwünscht. Ich selbst bin mit einer Schreibmaschine verheiratet - das habe ich ihm nicht gesagt.)
(Werde morgen mit Packen beginnen. Und dann buche ich gleich noch den Flug nach Baucau - es ist wichtig, für die Reise feste Pflöcke einzuschlagen, Eckpfeiler, nach denen man sich richten kann.)
 

*

(Ich muss, ich muss, ich halte das nicht mehr aus! - ah! äääng!! - und schon kracht's wieder, ein richtiger Urknall diesmal, aus dem Arschloch des Alls! Gott, hat der eine Verdauung!)
(Herr, scheisse mich an, lass deine Kotz über mich kommen - damit es was zu schreiben gibt!)
 
 
 
 
 

23.
 

Montag, 21. September

(Alles verpackt, was ich mitnehmen will; den Rest überlasse ich Ng.)
(Bin nervös: als Fremder in der eigenen Wohnung.)
(Theatralik als einzig möglicher Bewusstseinszustand; Vergessenheit als erste Lebensbedingung.)
(Vielleicht doch ein anderer Name?)
 

Alle Formalitäten erledigt; Ng hat den Mietvertrag unterschrieben.
Die Landlady wusste nicht recht, ob sie den Wechsel begrüssen oder bedauern sollte; jedenfalls wünschte sie mir alles Gute. Die jungen Leute, meinte sie, müssten die Welt sehen, das sei schon in Ordnung.
Meinerseits verbürgte ich mich für Ng: ein sauberer Bursche - mit soliden Absichten und einer sicheren Zukunft.
 

*

(Definitiv morgen früh: per Bus, um 09.30 Uhr.)
(Werde ein Taxi nehmen zur Busstation; will niemanden um den Gefallen eines Transfers bitten. Die sollen jetzt studieren.)
(Der Flug ist gebucht; habe ihn nochmals telefonisch rückbestätigt beim netten Fräulein auf dem Campus. Das Ticket wird sie mir postlagernd zustellen - bezahlt ist es.)
 

Auf dem Weg zum College: begegnete den beiden Putzfrauen, die mein Zimmer zu reinigen pflegten.
"Hallo!" rief mir die ältere strahlend zu. "Ich erinnere mich an dich: Du warst doch letztes Jahr bei uns?"
Ich erkundigte mich nach Chapong.
"Der Ärmste! Und das mitten im letzten Trimester!" Wahrscheinlich hätte alles mit Kopfschmerzen begonnen: einmal habe sie Kopfwehtabletten in seinem Zimmer gesehen. "Viele Leute vertragen eben das Frühlingswetter nicht!"
Ich konnte ihr nur zustimmen.
 

*

(Verpacke meine "losen Blätter"; wollte sie zuerst wegschmeissen. Vielleicht werde ich sie aufbewahren und vereinzelt noch verwerten. "Gebündelt" ergäben sie einen richtigen Frühlingsstrauss.)
(Dachte an die James-Story und worin das Wesentliche liegt. Im Sinne einer Übung wird es darum gehen, einen homogenen Stoff zusammenhängend darzustellen. Dies sollte machbar sein.)

Ismael hatte eben fertig zu Mittag gegessen und las im Aufenthaltsraum Zeitung. Auf seine milde Art zeigte er sich erfreut über meinen Besuch.
"Bruder - wie geht's?"
So hatte er mich noch nie begrüsst.
Ich setzte mich neben ihn, nahm ihm die Zeitung aus der Hand und blätterte darin herum: sie bot nichts ausser den Witzen.
Dann sassen wir da und schauten den jungen Studenten zu, wie sie nacheinander, vereinzelt oder in Gruppen aus der Mensa traten und sich etwa nach einer Zeitung oder ihrer Post umschauten oder einfach herumschlenderten oder gemächlich zum Hof hinaus zu ihren Wohnquartieren hinüberspazierten.
Auch Albert (er hatte im Speisesaal mit Hassan an einem Tisch gesessen) kam herüber und pflanzte sich breitbeinig vor uns hin und steckte dazu die Daumen in den Gürtel, so als spielte er in einem Western.
"Hallo, Renzie-Boy!" schnodderte er mich an, "du hast dich aber hier schon lange nicht mehr blicken lassen, was?"
Ich reichte ihm die Zeitung.
Durch die Glastür zum Speisesaal sah ich, wie Hassan ebenfalls seine Mahlzeit beendete; aber dann trat er, so als hätte er's eilig, vom Speisesaal direkt in den Hof hinaus, anstatt Albert in den Gesellschaftsraum zu folgen.
Albert wollte etwas: zuerst wollte er per Bus an den Strand hinausfahren, um ein erstes Sommerbad zu nehmen; dann schlug er vor, eine Tasse Kaffee auf dem Campus zu trinken; und schliesslich bat er mich um einen Dollar für einen dringlichen Telefonanruf.
Nachdem ich ihm alles abgeschlagen hatte, schlurfte er mit seinen schmutzigen Füssen zum Billardtisch hinüber.
Wir blieben noch eine Weile sitzen. Es war, als hielte uns eine plötzliche Müdigkeit an unseren Sesseln fest; dabei ging es nicht einmal darum, endgültig Abschied zu nehmen.
Die Zeit lief ab. Und es ergab sich kein Grund, Ismaels Hand in die meine zu nehmen.
 

*

(Die Frage der Begabung oder der Eignung stellt sich nicht; auch weiss ich nicht, was es zum "Schreiben" braucht. Ich habe etwas zu tun, muss etwas schreiben - damit hat es sich.)
(Was ich weiss: dass ich nicht anders kann. Es ist das einzige, was bleibt, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.)
 
 
 

Diesmal ist es Miung. Er kommt aus dem alten Grund: Unterhaltung. Ihn habe ich am wenigsten erwartet.
Er nimmt auf dem Sessel neben dem Bett Platz. Ich sitze auf dem Sofa - vor dem kleinen runden Sofa-Tischchen - mit der Schreibmaschine vor mir. Es ist, als ob ich mich anschickte, Miungs Besuch zu protokollieren.
Nach dem dritten Glas Portwein taut er endlich auf, und er beginnt, sich über Francis und Hassan zu ereifern.
"Für Drogen und Nachtclubs haben sie immer Geld!" beklagt er sich. "Sie sind wirr im Kopf! Sie haben schon alles versucht - nun langen sie nach dem höchsten! Aber eines musst du wissen, Renzie: an alledem bist du schuld!"
Dabei fixiert er mich mit theatralischer Strenge und richtet dazu den erhobenen Anklagefinger auf mich, sodass ich unwillkürlich lachen muss. Mit seinem chinesisches Vollmondgesicht wirkt er zu komisch, wenn er sich ereifert.
"Nein, wirklich, Renzie; ich meine es ernst!" sagt er unbeirrt. "Erst durch dich ist er überhaupt auf den Genuss von Alkohol gekommen - und erst durch dich wurde er in die ganzen Sexgeschichten hineingezogen!"
Schön, dann trage ich die Schuld. Die Frage der Schuld ist mir neu; sie wird hier nicht gestellt.
Miung geht. Auf seinem Sessel hinterlässt er gleichsam eine "vertiefende Erinnerung", wo er gesessen hat.
Spuren des Lebens.
Ich werde die Spuren verwischen. Mit der Spur erlischt die Schuld.
 
 
 
 
 

24.
 

Dienstag, 22. September

Also dann: Ade! Gehen wir dahin!
Dies nun also der Tag, dies der Tag meines Abgangs!
Gut! So schliesst - dies Tagebuch - was einst, mehr recht denn rechtens, als Übung (und hier!) begann; na ja - und dann: folgt der Zauber, die Kunst, die Magie des Fakirs: SCHWUBBEDI-WUPS! - und neu die Welt, dem Tod entronnen, zu frisch verjüngtem Bild entsteht!
Dazu die Schreibmaschine hier: mit Bus- und Flugbillet, nebst Strandhüttenschlüssel und diversen Gepäckstücken - alles bereit, den Schritt auf die Dielenbretter, die steile Holztreppe hinunter auf die Strasse hinaus zu tun!
Auf denn, gereist! Davon, ans Meer!
Mit der Adresse im Sand - mit dem neuen Wohnort in den Wind gehievt - durchziehen wir kreuz und quer die ganze Welt, besuchen touristische Stationen, bei Freund und Feind, nach geziemenden Sitten - wie's uns gefällt.
Koffern, Taschen, Kleingeld - bereit! Die Noten: abgezählt!
Etwas mulmig wird mir schon.
Praktisch war das Tagebuch: gestalten mochte man, gewichten, Themen auslassen, dazufabulieren, Seiten austauschen, Chronologien biegen...
Adieu denn, rundes Schreibtischchen; lausige Wohnung: ade!
Ade, ihr Leute von Perth; ich werde euer Lied singen! Eure Farbe werde ich sein, und der Duft eurer Blumen, die Luft, die ihr atmet, die Tiere und Klänge, die Berge -
Eure Götter werde ich sein, eure Bräuche, die Stimme eurer Ahnen - als Zeuge eurer Geschichte (der verschlüsselten Riten), die sich im Kreis schliesst!
Jetzt gilt's, die Stunden abzuzählen, die Zeit zu zermalmen - bis zum endgültigen Schlusspunkt!
Und zu klimpern hat es, nicht wahr, alte Klimperkiste?
(... tipi-tipi-tip!...)
Schon recht! - und vielblättrig aus Knospen zu spriessen -
(...Raschel-Raschel!...)
- wie zur Urzeit eines erspriesslichen Urwalds.
Auf denn, Veumier, hinweg!
Und Schritt um Schritt, Wort für Wort:  FORT!
 
 
 
 
 
 
 
 

E N D E